Boeser Traum
uns schon mal prophylaktisch die Schuld in die Schuhe schieben wollen, für den Fall, dass Sie unsere Tochter nicht finden? Wollen Sie andeuten, dass das nicht passiert wäre, wenn wir uns besser um sie gekümmert hätten?« Ihre Stimme zittert nicht mehr. Sie überschlägt sich. Wut klingt aus jeder Silbe.
»Dagmar, beruhig dich bitte«, mischt ihr Mann sich ein.
»Gute Idee. Lass uns einfach ganz ruhig nach Hause gehen und abwarten. Ach, das Wetter ist ja ganz schön. Wieso gehen wir nicht ein bisschen spazieren?« Sie versucht höhnisch zu klingen. Doch es gelingt ihr nicht. Die Tränen kommen mit aller Wucht. Die letzten Worte sind kaum noch zu verstehen. Klaus Peters kramt eine Packung Taschentücher aus den Tiefen seines Schreibtischs. Er reicht es wortlos über den Schreibtisch. Er kennt diese ganzen emotionalen Ausbrüche. Die Wut, die Trauer, die Angst, die Verzweiflung. Er wartet ab, bis das Schluchzen leiser wird.
»Ich weiÃ, wie schmerzhaft das alles für Sie ist. Es ist für Eltern ganz furchtbar, wenn den eigenen Kindern etwas zustöÃt. Aber wir müssen in alle Richtungen ermitteln. Wir wissen noch nicht, ob sie gewaltsam entführt wurde oder doch eventuell freiwillig gegangen ist. Kann es sein, dass Ihre Tochter vielleicht einen älteren Freund hat, mit dem sie durchgebrannt ist? Wäre das denkbar?«
»Warum sollte unsere Tochter durchbrennen?«, herrscht Dagmar Engels ihn an.
»Vielleicht, weil sie nicht in das Internat wollte?«, fragt Uwe leise.
»Was für ein Internat?« Klaus Peters ist hellhörig geworden. Von einem Internat hatte bisher noch niemand gesprochen. Er fragt sich: Warum nicht?
Hinter den Augen tobt der Krieg
S ie ist im Keller.« Emilias Stimme ist leise, aber sie ist gut zu verstehen.
Lisa streichelt ihr kurz und kalt über die Hand. »Alles gut. Ruh dich aus«, sagt sie in Richtung Patientin. Sie kennt das schon. Viele fantasieren hier, reden oder schreien auch im Schlaf. Auch Emilia hat die Augen geschlossen, aber sie schläft nicht. Sie sieht Charlotta da in dem Keller. Sie sieht sich selber mit dem Rad wegfahren. »Sie ist im Keller eingeschlossen«, sagt sie ein bisschen lauter. Das Reden strengt sie an.
»Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Du musst dich nur ein bisschen ausruhen«, erwidert Lisa automatisch. Ihre Stimme klingt teilnahmslos. Sie tätschelt wie ein Roboter. Wenn sie einen guten Tag hat, spricht sie mehr mit den Patienten, ist geduldiger, fröhlicher. Sie hat keinen guten Tag. Sie spürt, dass Julius ihr aus dem Weg geht. Das versetzt ihr fiese Stiche. Sie ist verliebt. Bis über beide Ohren. Sie hat sogar eine Diät angefangen, weil sie glaubt, dass Julius sie zu dick findet. Das Hungergefühl kickt ihre schlechte Laune noch eine Etage tiefer. Und wahrscheinlich wäre sie trotzdem einen Hauch freundlicher, wenn es sich um einen anderen Patienten handeln würde. Aber zu Emilia freundlich zu sein, fällt ihr schwer. Lisa hatte Julius beobachtet und gesehen, wie er das Mädchen behandelte. Sie hatte registriert, wie zart seine Finger über ihre Hände geglitten waren, wie er sie ansah. Es hatte ihr den Hals zugeschnürt, auf einmal fühlte sie sich pickelig, dick und überflüssig. Was hat dieses kaputte, aufgeschnittene Mädchen, das Julius so anrührt? Sie versteht es nicht. So wie Julius oft ein Rätsel für sie ist. Und genau das fasziniert sie so. Er ist anders als andere Typen in seinem Alter. Er macht keine dummen Sprüche, er starrt ihr nicht auf den Busen, er gibt nicht damit an, wie viel er am Wochenende gekippt hat und drückt sich auch vor den fiesen Jobs nicht. Sie wirft einen letzten Blick auf Emilia, die wieder verstummt ist, und wendet sich dem nächsten Patienten zu.
Hinter Emilias geschlossenen Augen tobt ein Krieg. Beruhigungs- und Schmerzmittel kämpfen gegen das Bewusstsein, gegen die Realität. Emilia ist das Opfer des Gemetzels. Mal drängen sich wahre Bilder an die Oberfläche, sind stärker als die Tranquilizer. Dann wieder siegen die Medikamente und ihr Kopf füllt sich mit Watte. Da sind dann keine scharfen Kanten mehr, keine klaren Erinnerungen, nur weiches, warmes Nichts.
In Charlotta steigt die Wut, wird schwärzer, lauter, verzehrender. Was denkt Emilia sich? Kann sie sich ungefähr vorstellen, wie es sich anfühlt, in diesem dunklen Nichts eingesperrt zu
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