Boeser Traum
lautstark bemerkbar macht. Er war am Freitag schon fast eingeschlafen, als die Krankenschwester im Nebenzimmer zu stöhnen anfing. Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn er noch wach gewesen wäre. Er hätte den Fernseher lauter drehen, sich die Musik in die Ohren stecken können. Aber so im Halbschlaf konnten die Geräusche in sein Innerstes eindringen und alte Bilder an die Oberfläche spülen. Er sah sich wieder in dem kleinen Bett liegen. Eigentlich war er schon zu groà für ein Gitterbett, aber seine Mutter studierte, hatte nicht viel Geld. AuÃerdem hatte sie ja die Stäbe abmontiert. Er konnte raus. Und er ging raus. Seine Mutter stöhnte. Sie musste Schmerzen haben. Der kleine Julius war sich sicher. Er hatte Dinge gesehen, die ihn ängstigten. Er wollte ihr helfen, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Und so hatte er nur dagestanden und geschaut. Fasziniert auch, angewidert mehr. Er hatte sie auf dem Bildschirm gesehen, worin sich das Spiel zwischen der Mutter und dem jeweiligen Mann spiegelte. Seine Mutter hatte ihn nicht bemerken können. Sie hätte vorsichtiger sein müssen, leiser auch. Aber sie war so jung gewesen. Dreiundzwanzig Jahre und auch ein bisschen stolz darauf, dass sie ihren kleinen Julius alleine groÃzog. Er war kein Wunschkind gewesen. Er war das Resultat einer kurzen Episode, bei der wenig Liebe im Spiel gewesen war. Als Juliusâ Mutter ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, war sie einfach nur überrascht gewesen. Und irgendwie ein bisschen verliebt in diesen kleinen Wurm in ihr. Sie hatte sich damals eingeredet, dass sie es schon irgendwie hinkriegen würde. Und vieles schaffte sie ja auch. Sie ging zur Uni, hatte einen Kita-Platz für ihren Sohn, sie jobbte nebenbei in einem Café, ging zum Kinderturnen. Sie bemühte sich, alles richtig zu machen, aber manchmal wollte sie nicht nur Mutter und fleiÃig sein. Sie wollte wild, jung, begehrlich sein. Und dann wurde sie wahllos.
Julius fing damals irgendwann an, sich zu verachten. Warum half er seiner Mutter nicht? Warum rannte er nicht schreiend ins Wohnzimmer, um dazwischenzugehen? Er biss sich auf die Lippen, später auf die Fingerknöchel. Er litt mit seiner Mutter. Das dauerte Jahre. Bis er auf dem Schulhof aufgeklärt wurde. Zumindest teilweise. Denn die Gerüchte auf dem Hof über das, was genau zwischen einem nackten Mann und einer nackten Frau passierte, war Halbwissen gepaart mit Fantasie und Horrorvisionen. Julius hörte immer genau hin, sog alles in sich auf. Das Bild seiner Mutter veränderte sich schleichend. Sie wurde schmutzig. Er fing an, sich vor ihr zu ekeln. Er traf sie nachts auf dem Flur, weil er von dem Lärm wach geworden war. Sie roch dann komisch. Nach einer Mischung aus Alkohol, Zigarettenqualm und Männerparfüm. Er konnte die einzelnen Bestandteile nicht einordnen. Die Mischung legte sich wie ein Film auf seine Zunge, kroch in seine Nase, in seine Schleimhäute. Manchmal glaubte er, brechen zu müssen.
Er tat immer so, als sei er völlig schlaftrunken auf der Suche nach dem Klo. Dann ging er wieder ins Bett und konnte nicht schlafen. Er hörte die Stimmen aus dem Wohnzimmer, das gleichzeitig das Schlafzimmer seiner Mutter war, irgendwann verebbten die Stimmen und nach einer Weile quälte ihn dann die Mischung aus Stöhnen, Quietschen, Kichern, unterdrückten Schreien. Dann stand er immer auf, schlich auf den Flur und guckte auf den Bildschirm. Er konnte nicht anders. Er wurde davon angezogen wie von einem Magneten. Vielleicht sagte ihm sein Instinkt, dass die Fantasien noch schlimmer sein könnten als die realen Szenen. Womöglich war das ein Trugschluss.
Die letzten Tage in diesem Schwesternwohnheim hatten ihm Angst gemacht. Die alten Bilder waren wieder da. Besudelte Frauenkörper tauchten in seinen Träumen auf. Mit riesigen Mündern, der Lippenstift verschmiert. Sie hatten oft obszön groÃe Brüste. Sie kamen ihm zu nahe. Er ekelte sich, musste würgen. Manchmal lief auch Blut an den Frauenbeinen runter, das sich zu Pfützen sammelte. Wenn das in seinen nächtlichen Bildern auftauchte, wurde der Tag danach besonders schlimm. Weil ihn jeder Blutfleck im Krankenhaus dann wieder daran erinnerte. Zeitweise hatte er Psychopharmaka genommen, leichte Tranquilizer. Doch dann spürte er sich im Kern eines Wattebausches und das ängstigte ihn noch mehr. Es stieg die Angst, die Kontrolle zu
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