Boeser Traum
Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« Er will jetzt raus hier.
»Keine Ursache.« Der Mann schlurft wieder in sein Büro.
Julius radelt einfach weiter. Direkt hinter dem Klärwerk fängt ein Wald an. Er findet eine kleine Lichtung, lässt sich da in das Gras fallen und ist sofort eingeschlafen.
Keine zweihundert Meter von Charlotta entfernt.
Ist das Ende der Träume das Ende von allem?
D ie liegt noch immer auf dem schmutzigen Boden. Sie hat sich ganz klein gemacht, die Beine angezogen, die Arme um sich geschlungen. Ganz langsam driften ihre Gedanken ab, ihr Unterbewusstsein bekommt die Ãberhand. Ergreift Besitz von ihr, von ihren inneren Bildern. Plötzlich schreit sie auf. Sie hat Maden gesehen. Dicke Maden, die wie kleine dicke Würmer über sie krabbelten. Sie schaudert, hat eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie hat im Traum gefühlt, wie die fetten Tiere überall auf und unter ihr waren. Es hat gekribbelt und gekrabbelt. Sie streift mit den Händen über ihre Arme, über ihre Beine. Als wären da wirklich kleine Tiere, die sie abstreifen müsste. Sie hockt sich hin. Warum schafft sie es nicht, mit dieser kleinen scharfen Scherbe jetzt den richtigen Schnitt zu setzen? Einmal kurz und fest den Innenarm hoch. Nicht quer. Das wei à sie. Sie denkt an das Mädchen, das jahrelang in einem Keller eingesperrt würde. Von einem fremden Mann. Viele Jahre hatte der sie in einem Gefängnis gehalten, sie immer wieder missbraucht. Woher hatte dieses Mädchen die Gewissheit, jemals wieder frei sein zu können? Wieso hat die nicht das Ende selbst bestimmt? Die Möglichkeit dazu hätte sie mit Sicherheit gehabt. Wie kann man diese Einsamkeit, diese Angst so lange ertragen? Ja, Charlotta hat auch Durst. Aber das ist noch nicht das schlimmste Gefühl. Der Moment, dass der Durst alles überdecken wird, ist nicht fern. Aber jetzt ist es einfach abgrundtiefe Angst und der Unglaube. Es kann nicht sein, dass Emilia sie im Stich lässt. Oder? Ihr fällt eine Szene ein, ein paar Jahre ist es schon her. Ein Junge von ihrer Schule hatte Charlotta zum Eisessen eingeladen. Ganz schüchtern. Sie hatte das Emilia erzählt, als sie am Nachmittag im Freibad lagen. Emilia war wortlos aufgestanden, hatte sich vom Büdchen einen Becher mit Eiswürfeln geholt, war zu dem Jungen gegangen, hatte den über seiner Badehose ausgeleert und gelacht: »Du wolltest ein Eis? Hier ist es!«
Charlotta hatte damals gelacht. Emilia zuliebe. Direkt danach tat ihr der Typ einfach nur leid. Der war natürlich total rot geworden und hatte Charlotta nie wieder angesprochen. Und jetzt eben Mats, den Emilia wie ein Dackel wegbeiÃen wollte. Ist Emilia eifersüchtig? Ist sie krankhaft eifersüchtig? Charlotta fragt sich, ob sie ihre Freundin wirklich so gut kennt. Oder hat die Vorstellung, dass Charlotta weggehen könnte, bei Emilia irgendwas auÃer Kraft gesetzt? Die Gedanken in ihr rasen. Sie hat vor Kurzem einen Film gesehen, in der eine wildfremde Frau plötzlich genauso wird wie ihre Mitbewohnerin. Sie kleidet sich so, lässt sich die Haare so schneiden, hört dieselbe Musik. Sie wird zu ihrer eigenen Mitbewohnerin, die sie erst in den Wahn, dann in den Tod treibt.
Ist bei Emilia irgendwas durcheinander im Kopf?
Will sie mich ganz für sich? Mich besitzen? Zur Not auch verdurstet?
Die Fragen sind plötzlich da.
» NEIN !« So laut sie kann, brüllt sie die vier Buchstaben an die Decke. Sie schüttelt den Kopf, als müsste sie die Fragen rausschütteln, die Gedanken wieder in die richtige Ordnung bringen. Sie schämt sich vor sich und für sich.
Wenn Emilia nicht kommt, kann das nur heiÃen: Es ist etwas Fürchterliches passiert. Und auf einmal ist es Charlotta klar: Sie muss einen Unfall gehabt haben. Der Gedanke schreckt sie jetzt gar nicht so wie beim ersten Mal. Im Gegenteil: Sie wird ganz ruhig. Will sie denn überhaupt weiterleben ohne Emilia? Könnte sie sich ein Leben ohne sie überhaupt vorstellen? Die Trauer überrollt sie von hinten. Sie sieht Emilia auf dem Rad, einen groÃen Lkw. Sie sieht, wie Emilia von ihm von der StraÃe gedrängt wird, fällt und von den schweren Rädern überrollt wird. Alles in ihr wird zerquetscht. Ãberall ist Blut. Der Lkw fährt vielleicht sogar weiter. Es dauert, bis ein Auto kommt und der Notarzt alarmiert wird. Emilia hat in den Himmel gesehen und
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