Boeser Traum
bisschen runter. Sie nickt fast erleichtert.
Wo sind Emilias Sachen? Wo sind die Klamotten, die sie am Samstag getragen hat? Normalerweise werden die den Eltern ausgehändigt. Mit der starken Beinverletzung, die Emilia bei der Einlieferung hatte, ist es aber wahrscheinlich, dass die Hose aufgeschnitten wurde. Er guckt sich um. Er öffnet vorsichtig die Schränke. Nichts. Erst zuletzt schaut er in ihren Nachttisch. Da liegt wirklich ein durchsichtiger Plastiksack. Ganz leise zieht er ein blutverschmiertes Shirt und eine noch blutigere â und zertrennte â Hose raus. Er tastet, hat den Blick immer auf die Türöffnung geheftet. Jetzt bloà nicht erwischt werden, wie er in den privaten Sachen einer Patientin wühlt. Dann wäre alles vorbei. Er kann es kaum glauben: Vorne rechts fühlt er einen Schlüssel. Er lässt ihn in der Tasche seiner Jacke verschwinden, stopft die blutigen Sachen schnell zurück in den Nachttisch.
Vorsichtig wirft er den Blick auf den Schlüssel. Er ist völlig verrostet.
»Ganz ruhig, Emilia. Jetzt kann ich Lotta holen. Ich habe den Schlüssel. Der Keller ist hier in der Nähe, oder?«
Mit ganz viel Anstrengung schafft sie es wieder, die Augen zu öffnen. Er sieht Panik. Blanke Panik. Natürlich. Emilia weià überhaupt nicht, wo sie ist. Wie kann sie wissen, ob dieser Keller in der Nähe ist?
Mist.
Er beugt sich vor, flüstert ihr mit Bestimmtheit ins Ohr: »Emilia, sag mir, wo der Keller ist. Das ist ganz wichtig. Dann kann ich Lotta retten für dich. Nur dann.«
Er sieht auf dem Monitor, wie Atem- und Herzfrequenz steigen. Wenn es noch höher geht, wird im Kontrollraum eine Lampe angehen und wenige Sekunden später wird eine Schwester hier sein.
»Alt«, sagt sie endlich.
»Mehr«, fordert er nachdrücklich.
Sie krächzt. Er versteht »Bergwerk«. Er guckt auf den Monitor und atmet tief ein. Er steht auf und geht der Schwester entgegen. Er trifft sie auf dem Flur. »Sie redet so wirr. Ich kann sie nicht beruhigen. Vielleicht sollte sie etwas bekommen«, sagt er vorsichtig.
»Danke, Herr Chefarzt. Genau das hatte ich vor«, zischt sie schlecht gelaunt. Es ist drei Uhr morgens. Da ist gute Laune eine Seltenheit.
Alt und Bergwerk.
Julius starrt aus dem Fenster. Ganz hinten am Horizont glitzert es schon leicht silbergrau. Es wird wieder ein wunderschöner Tag werden für die meisten zumindest.
Was soll er mit diesen beiden Worten anfangen? Ein altes Bergwerk? In der Gegend gibt es keine Bergwerke. Und wie soll er das mit dem Keller in Verbindung bringen? Ein Bergwerk kann wohl kaum einen Keller haben. Das schlieÃt sich wohl aus. Gab es hier mal Kohleabbau oder so etwas? Er macht die Augen kurz zu, sieht noch mal die Panik in Emilias Augen. Irgendetwas sagt ihm, dass er nicht viel Zeit hat. Als er um halb sieben zu Hause todmüde ins Bett fällt, stellt er den Wecker deshalb auf halb acht. Er will um acht Uhr am Heimatmuseum sein. Vielleicht findet er da die Informationen, die er braucht.
Die Haut wird dünner, die Wut tiefer
I m Hause Brandt ist die Stimmung kurz vorm Implodieren. Claudine und Uwe haben wenig miteinander gesprochen in den letzten Stunden. Die Worte, die gewechselt wurden, fielen wie ein Beil. Beide halten die Angst nicht aus, verwandeln sie in Wut. Wut auf den Partner.
Klaus Peters tätigt den Anruf. Hier muss jetzt eine Psychologin ran. Vielleicht hätte er die schon vor Stunden anfordern sollen. Charlottas Eltern häuten sich Schicht für Schicht. Die Haut wird immer dünner.
»Und wenn sie doch einfach gegangen ist? Weil sie es nicht mehr ausgehalten hat?«, hört er Uwe Brandt leise fragen.
»Was nicht mehr ausgehalten?«, springt seine Ehefrau sofort an. »Mich? Willst du das sagen? War ich zu streng? Willst du wirklich behaupten, ich hätte sie aus dem Haus getrieben?«
Ihre Stimme ist ganz kurz vorm Kippen. Wahrscheinlich ist sie selber kurz vorm Umkippen.
»Ich will dir gar keine Schuld geben. Vielleicht haben wir einfach zu viel von ihr verlangt«, versucht ihr Mann sie zu beruhigen.
»Zu viel verlangt? Klar. Wenn du hättest allein entscheiden können, wäre sie nach der mittleren Reife von der Schule gegangen, hätte eine hübsche Ausbildung bei Edeka an der Kasse gemacht, wäre dann irgendwann stellvertretende Filialleiterin und dann glückliche Mutter geworden. Und sie hätte einen fleiÃigen
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