Boeser Traum
ohnehin nichts gesehen. AuÃer ihr Rotweinglas.
Er massierte ihr die FüÃe. Eines Morgens hatte er mal beobachtet, wie ein Mann das bei ihr gemacht hat. Sie hatte sich dabei wohlig ausgestreckt. Manchmal kämmte er sie und machte ihr lustige Zöpfe. Und manchmal, eher selten, war sie plötzlich aufgetaucht aus ihrer Starre, hatte ihn angeguckt, als sei sie überrascht, ihn zu sehen. Und dann hatte sie gegrinst und die irrsten Vorschläge gemacht: »Komm, heute Nacht gehen wir heimlich im Freibad schwimmen.«
»Komm, wir stellen den Wecker auf null Uhr und feiern die Geisterstunde.« Dann hatten sie sich mit Betttüchern als Gespenster verkleidet und sich vorgestellt, der Kirschsaft sei Blut.
»Komm, wir malen uns mit Wasserfarbe an.«
Julius ist nach drauÃen gegangen, lehnt an der Hauswand. Er hält den Kopf Richtung Sonne, hat die Augen geschlossen.
Er erinnert sich, wie er mit seiner Mutter regelmäÃig in den Zoo gegangen ist. Wie sie sich hineingeschlichen haben. Sie haben immer dieselbe Nummer abgezogen. Er ist einfach losgerannt, an der Schlange vorbei, in den Zoo. Seine Mutter hat nach ihm gerufen. Erst nur laut, dann laut wütend. Dann hat sie zu dem Mann am Eingang gesagt: »Entschuldigen Sie, aber den hole ich mir. Unser Bus geht in fünf Minuten.« Mit den Sätzen ist sie auch rein. Und schon waren beiden drin. Stundenlang hatten sie vor dem Affengehege gesessen und sich kaputtgelacht. Am meisten hatte Julius die Parade der Pinguine geliebt. Er war immer hinterhergewatschelt. Einmal hatte Juliusâ Mutter all ihren Charme spielen lassen und Julius hatte bei der Elefantenfütterung helfen dürfen.
Am nächsten Morgen hatte er den Tierpfleger gesehen. Neben seiner Mutter unter der Decke. Danach war er nicht mehr so gerne in den Zoo gegangen.
Julius macht die Augen auf. Die Sonnenstrahlen schmerzen. Was soll er jetzt tun?
Ganz, ganz kurz hat er die Idee, er könnte zur Polizei gehen. Er würde erzählen, dass er hier joggen war und dumpfe Schreie gehört hat. Er wäre in das Haus gegangen. Der Schlüssel zum Keller hätte gesteckt. Er hätte die Tür geöffnet und ein Mädchen gefunden.
Und in zwei, drei Tagen wäre Emilia so weit, dass sie wieder richtig klar denken könnte. Sie würde sich daran erinnern, dass sie Julius von Charlotta erzählt hat. Es wäre klar, dass Julius nicht zufällig an dem Haus gewesen wäre.
Und schon hätte er ein Problem.
Ganz langsam, wie Korn für Korn durch die Sanduhr rieselt, wird Julius klar, dass er das ohnehin schon hat. Er muss den Weg weitergehen. Ob er will oder nicht.
Aber ganz tief in ihm will er ihn gehen â so sehr.
Der groÃe Augenblick?
G anz plötzlich hat er die Zeilen im Kopf. Die Welt dreht sich, der Tag fliegt vorbei. Ich träume in Sekunden. Das Jetzt fliegt vorbei ⦠Zu wenig Zeit für den groÃen Augenblick ⦠Lass uns aufstehen, um in die Welt zu sehen.
Er hat den Song von Unheilig schon tausendmal gehört. Mindestens. Er liebt die dunkle Stimme, die Verse, die gewaltige Musik. Plötzlich klingt das Lied anders für ihn. Ist das jetzt sein »groÃer Augenblick«?
Julius bekommt eine Gänsehaut, er steht auf, kann die Spannung nicht aushalten, muss sich bewegen. Er geht ziellos, entfernt sich aber nicht wirklich vom Haus. Immer wieder starrt er es an.
Welches Geheimnis hat dieses Mädchen? Wie lange ist sie schon da? Ein paar Tage? Monate? Jahre? Ein wohliges Schaudern durchzuckt ihn. Er wird sie erlösen. Er wird sie baden, mit einem Schwamm den Dreck, die Vergangenheit von ihr schäumen. Er wird ihre Haare waschen, sie kämmen. Er wird sie in ein weiÃes Frotteehandtuch einhüllen. Sie wird Angst haben. Erst. Aber dann wird sie spüren, wie gut er es mit ihr meint. Sie wird ihm vertrauen. Mit ihm gehen.
Er lehnt sich an einen Baum, guckt durch das Blätterdach in den Himmel.
Wohin wird sie mit ihm gehen? Er beiÃt sich auf die Unterlippe. Er wird sie wohl kaum mit in sein Zimmerchen nehmen können. Selbst wenn der Vermieter das erlaubte. Er würde sie damit nur wieder beschmutzen. Sie würde diese Geräusche hören. Allein bei dem Gedanken daran, wird er rot. Julius holt aus und haut sich selber eine Ohrfeige runter. Heftig. Die rechte Wange brennt.
»Verdammt«, brüllt er gegen die Bäume.
Der nächste Gedanke besänftigt ihn. Wieso kann sie nicht einfach in
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