Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
an den Füßen gepackt und über den Boden in den Therapieraum geschleift. Sie bekam den Türrahmen zu fassen, klammerte sich krampfhaft fest, zappelte mit den Beinen. Ein schmerzhafter Tritt in die Rippen raubte ihr den Atem, und sie ließ los.
»Bitte«, keuchte sie verzweifelt. »Bitte, tun Sie mir nichts.«
*
Meike schlug die Augen auf und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wo sie war. Sie räkelte sich behaglich und streckte die Arme über den Kopf. Vor dem Fenster zwitscherten die Vögel und durch die Schlagläden fiel Sonnenlicht und zeichnete helle Streifen auf den glänzenden Parkettfußboden. Gestern Abend war es spät geworden, Wolfgang und sie waren noch in Frankfurt essen gewesen und sie hatte ziemlich viel getrunken. Er hatte ihr wieder angeboten, sie könne in seinem Haus übernachten, denn ihm behage der Gedanke, sie allein im Haus in Langenhain zu wissen, ganz und gar nicht. Diesmal hatte sie seine Einladung angenommen und ihm verschwiegen, dass sie seit ein paar Wochen die Wohnung ihrer Freundin in Sachsenhausen hütete und gar nicht bei Hanna wohnte, denn sie liebte die herrliche weiße Villa der Familie ihres Patenonkels, seitdem sie ein Kind war. Früher hatte sie öfter hier übernachtet, wenn ihre Mutter auf Reisen war. Wolfgangs Mutter war wie eine dritte Oma für sie gewesen. Meike hatte sie ehrlich gemocht, ihr Selbstmord vor neun Jahren hatte ihr einen tiefen Schock versetzt. Sie hatte nicht verstanden, weshalb sich jemand, der in einem so schönen Haus wohnte, Geld genug hatte und überall beliebt und gern gesehen war, einfach auf dem Speicher aufhängte. Christine habe unter schweren Depressionen gelitten, hatte Hanna ihr damals erklärt. An die Beerdigung konnte Meike sich noch lebhaft erinnern. Es war an einem sonnigen, schönen Herbsttag im September gewesen, Hunderte von Menschen hatten am offenen Grab Abschied genommen. Sie war damals zwölf Jahre alt gewesen, und am meisten hatte sie beeindruckt, dass Wolfgang geweint hatte wie ein kleines Kind. Sein Vater war zwar auch immer freundlich zu ihr, aber seitdem sie einmal miterlebt hatte, wie er Wolfgang angebrüllt und beschimpft hatte, fürchtete sie sich vor ihm. Kurz nach der Beerdigung von Christine Matern hatte Hanna zum zweiten Mal geheiratet, und Georg, ihr neuer Mann, war schrecklich eifersüchtig auf die Freundschaft zwischen Hanna und Wolfgang gewesen, deshalb waren sie nur noch selten in die Oberurseler Villa gekommen.
Gestern war Meike den ganzen Tag mit Wolfgang unterwegs gewesen und sie hatte es genossen. Er hatte sie nie wie ein kleines Kind behandelt, selbst damals nicht, als sie eigentlich noch eines gewesen war. All die Jahre war er ihr Freund und Vertrauter gewesen, der einzige Mensch, mit dem sie hatte Dinge besprechen können, über die sie nicht mit ihrem Vater und schon gar nicht mit ihrer Mutter reden wollte. Wolfgang hatte sie in den verschiedenen Psychokliniken besucht, er hatte keinen ihrer Geburtstage vergessen und immer versucht, zwischen ihr und Hanna zu vermitteln. Hin und wieder fragte Meike sich, weshalb er keine Frau hatte. Seitdem sie wusste, was das war, überlegte sie, ob er schwul war, aber auch dafür gab es keine Anzeichen. Irgendwann hatte sie ihre Mutter danach gefragt, aber Hanna hatte nur die Schultern gezuckt. Wolfgang ist ein Einzelgänger, hatte sie geantwortet, das war schon immer so.
Hanna! Beim Gedanken an ihre Mutter meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Noch immer war sie nicht bei ihr im Krankenhaus gewesen. Gestern hatte sie mit Irina telefoniert, die natürlich schon da gewesen war. Aber das, was Irina erzählt hatte, hatte Meike erst recht darin bestärkt, den Besuch aufzuschieben. Sie schauderte und zog die Bettdecke bis ans Kinn. Irina hatte ihr Vorwürfe gemacht, die sie nicht hören wollte. Irgendwann würde sie schon hingehen, aber nicht heute. Heute wollte Wolfgang mit ihr in den Rheingau zum Essen fahren, in seinem coolen Aston Martin Cabrio. Damit du auf andere Gedanken kommst, hatte er gestern Abend gesagt.
Das Smartphone auf dem Nachttisch summte einmal. Meike streckte die Hand aus, zog das Ladekabel heraus und entsperrte das Telefon. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie zweiundzwanzig anonyme Anrufe erhalten. Sie ging aus Prinzip nicht dran, wenn jemand mit unterdrückter Nummer anrief, und schon gar nicht, wenn es die Bullen sein konnten. Diesmal hatte sie eine SMS bekommen.
Hallo, Frau Herzmann. Bitte melden Sie sich bei mir. Es ist sehr
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