Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Vergangenheit herumzuwühlen. Sie war ein Mensch, der im Hier und Jetzt lebte und nach vorne blickte. Nach der letzten Sitzung hatte sie der Therapeutin eigentlich sagen wollen, dass sie keinen neuen Termin haben wollte, aber in der letzten Sekunde hatte sie es dann doch nicht getan.
»Ja … ich meine, nein«, sagte Leonie Verges gerade. »Ich weiß auch nicht, wie ich es formulieren soll … Es ist eine ziemlich … nun ja … heikle Angelegenheit. Könnten Sie eventuell zu mir kommen?«
»Jetzt?« Hannas Blick wanderte zur Uhr im Display der Ladestation. »Es ist gleich zehn. Worum geht es denn überhaupt?«
Sie hatte nicht die geringste Lust, sich jetzt noch mal ins Auto zu setzen und nach Liederbach zu fahren.
»Es ist … es … es ist eine sehr brisante Geschichte, die für Sie als Journalistin ziemlich interessant sein könnte.« Leonie Verges senkte die Stimme. »Mehr kann ich am Telefon nicht sagen.«
Genau wie die schlaue Frau Verges es wohl beabsichtigt hatte, reagierte Hannas journalistischer Instinkt auf diese Formulierung wie der Pawlow’sche Hund auf den Glockenton. Sie war sich der Manipulation wohl bewusst, doch ihre professionelle Neugier war stärker als ihre Müdigkeit.
»Ich brauche eine halbe Stunde«, sagte sie nur und legte auf.
Meike hatte nicht mehr vor wegzugehen und lieh ihr großzügig den Mini. Fünf Minuten später setzte Hanna rückwärts aus der Einfahrt. Sie ließ das Verdeck herunter und steckte das iPhone in die Konsole, dann wählte sie die Musik aus, die sie hören wollte. Hanna hörte eigentlich nur beim Autofahren oder Joggen Musik. Das mickrige Auto besaß eine gigantische Harman-Kardon-Anlage, selbst bei geöffnetem Dach war der Sound sensationell.
Um diese Zeit war die Luft lau und angenehm, der nahe Wald strömte einen betörenden Duft aus. Die Müdigkeit war verflogen.
Freddie Mercury, der begnadetste Sänger aller Zeiten, begann zu singen. Seine Stimme jagte Hanna einen wohligen Schauer über den Rücken, und sie tippte auf den Lautstärkeregler, bis die Bässe in ihrem Zwerchfell vibrierten. Love don’t give no compensation, love don’t pay no bills. Love don’t give no indication, love just won’t stand still. Love kills, drills you through your heart …
Der Mini holperte über die Straße, die in den letzten Jahren immer wieder aufgerissen und geflickt worden war, bis sie aussah wie eine Patchworkdecke. An der Hauptstraße bog Hanna nach links ab.
»Jetzt bin ich ja mal echt gespannt«, sagte sie zu sich selbst und gab Gas.
*
Die Bemerkung von Kathrin Fachinger schwirrte Pia den ganzen Nachmittag durch den Kopf. Woher wusste Kathrin von Geheimnissen aus Behnkes Vergangenheit? Bodenstein hatte zu ihrem Bedauern kein Wort mehr über dieses Thema verloren, aber Pia hatte den Verdacht, dass es etwas mit der Sache zu tun hatte, die ihr Chef auf der Fahrt in die Rechtsmedizin erwähnt hatte. Nur, wie konnte Kathrin darüber Bescheid wissen?
Als Pia um halb zehn nach Hause kam, lag Lilly schon im Bett. Sie zog die Schuhe aus und nahm sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Christoph saß auf der neuen Terrasse, die im Zuge des Hausumbaus auf der rückwärtigen Seite des Hauses entstanden war. Früher am Abend hatte sie ihn angerufen, um ihm zu sagen, dass er nicht mit dem Essen auf sie warten sollte.
»Hi«, sagte sie und gab ihm einen Kuss.
»Hi.« Er setzte seine Lesebrille ab und legte das Buch, in dem er gelesen hatte, neben einen Stapel Zeitungen und Computerausdrucke.
»Was machst du da?« Pia setzte sich auf die Bank, löste das Haargummi und streckte die Beine aus. Das stete Rauschen der nahen Autobahn war hier kaum zu hören, und die Aussicht über den Garten und die Apfelbaumplantagen des benachbarten Elisabethenhofs bis zu den Taunusbergen in der Ferne bot eine weitaus attraktivere Kulisse als der Ausblick von der alten Terrasse. Grillen zirpten, es duftete nach feuchter Erde und Lavendel.
»Eigentlich wollte ich diesen Beitrag für eine Fachzeitschrift schreiben, den ich seit Tagen vor mir herschiebe«, erwiderte Christoph und gähnte herzhaft. »Ich hatte versprochen, ihn bis morgen fertig zu haben, aber irgendwie fehlt mir die notwendige Konzentration.«
Pia vermutete, dass Lilly ihn den ganzen Tag auf Trab gehalten hatte, doch entgegen ihren Befürchtungen schien es sich recht gut anzulassen. Die Kleine war den ganzen Tag mit Christoph im Zoo gewesen und hatte sich gut benommen. Er hatte sie in die Obhut der beiden
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