Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
bevor wir Ihnen Details erzählen …«, sie zögerte kurz, »… sollten Sie wissen, dass es eine höchst brisante Angelegenheit ist, die für viele Menschen extrem unangenehm und gefährlich werden kann.«
Das hörte sich nach Problemen an, und die brauchte Hanna im Moment so wenig wie einen Pickel auf der Nase.
»Warum wenden Sie sich ausgerechnet an mich?«, wollte sie wissen und griff im gleichen Moment wie Mr. Blue Eyes nach der Glaskaraffe mit Wasser und Eiswürfeln, die auf dem Tisch stand. Ihre Hände berührten sich, und sie zuckte zurück, als habe sie sich verbrannt.
»Entschuldigung«, murmelte sie verlegen.
Er lächelte nur kurz, schenkte erst ihr und dann sich selbst ein.
»Weil Sie sich nicht davor scheuen, heiße Eisen anzupacken«, erwiderte der Riese anstelle von Leonie. »Wir kennen Ihre Sendung.«
»Ich rede normalerweise nicht über meine Patienten«, warf Leonie ein. »Das verbietet mir schon die Schweigepflicht, aber in diesem speziellen Fall wurde ich davon entbunden, Sie werden hoffentlich verstehen, warum.«
Hannas Neugier war geweckt, aber sie zögerte noch. Üblicherweise arbeitete sie anders. Die Themen, die sie interessierten, fanden sie und ihr Team selbst, in Zeitungen, im Internet, auf der Straße. Doch wenn sie ehrlich war, hatte diese Art der Recherche ihren Reiz verloren. Hartz- IV -Familien, Enkeltrickbetrüger, jugendliche Mütter, kriminelle Migrantenkinder, Ärztepfuschopfer und Ähnliches hatte sie schon ein Dutzend Mal in ihrer Sendung gehabt, das riss niemanden mehr vom Hocker. Es war höchste Zeit für eine Story, die richtig fette Quoten brachte.
»Worum geht es?«, fragte sie und holte ihr Diktiergerät aus der Tasche. »Wenn Sie meine Sendung kennen, dann wissen Sie ja auch, womit wir uns beschäftigen. Die menschlichen Schicksale stehen im Vordergrund.«
Sie legte das Diktiergerät auf den Tisch.
»Ist es in Ordnung, wenn ich das Gespräch aufnehme?«
»Nein«, sagte der Mann mit den blauen Augen, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte. »Keine Aufnahmen. Hören Sie einfach nur zu. Wenn Sie es nicht machen wollen, hat es dieses Treffen hier nicht gegeben.«
Hanna blickte ihn an. Ihr Herz begann zu klopfen. Lange konnte sie diesem Blick nicht standhalten. In seinen Augen erkannte sie eine Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit, die sie gleichermaßen faszinierte und beunruhigte. Und diesmal sah sie mehr als nur seine Augen. Ein scharf geschnittenes, hageres Gesicht mit einer hohen Stirn. Gerade Nase, markantes Kinn, ein breiter, sensibler Mund, das Haar leicht ergraut – ein bemerkenswert attraktiver Mann. Wie alt mochte er sein? Fünfundvierzig, sechsundvierzig? Was hatte er mit dem Rockerriesen zu tun? Weshalb saß er hier bei Leonie Verges in der Küche? Welches Geheimnis lastete auf seiner Seele?
Sie senkte den Blick. Ihre Entscheidung war gefallen, genau in dieser Sekunde. Die Sache als solche interessierte sie auch, aber den Ausschlag gab etwas anderes. Dieser gutaussehende Fremde mit den irritierend blauen Augen hatte völlig unerwartet etwas in ihrem tiefsten Innern berührt, etwas, von dem sie nicht gedacht hatte, dass es überhaupt noch existierte.
»Erzählen Sie mir, worum es geht«, sagte Hanna. »Ich fürchte mich nicht vor heißen Eisen. Und für eine gute Story bin ich immer zu haben.«
Zwei Wochen später
Donnerstag, 24. Juni 2010
Die Teambesprechungen des K11 fanden wieder im üblichen Raum im ersten Stock statt, den Bereitschaftsraum hinter der Wache hatte man vor ein paar Tagen geräumt und wieder seiner eigentlichen Bestimmung übergeben.
Zwei Wochen nach Auffinden der Mädchenleiche waren sie der Lösung des Falles trotz aufwendiger Ermittlungen keinen nennenswerten Schritt näher gekommen. Die Beamten der Sonderkommission »Nixe« hatten zahllose Hinweise verfolgt und Dutzende Leute befragt, doch jede Spur endete in einer Sackgasse. Niemand kannte das tote Mädchen, niemand vermisste es. Eine Isotopenanalyse hatte ergeben, dass das Mädchen in der Nähe von Orscha in Weißrussland aufgewachsen war, die letzten Jahre ihres kurzen Lebens jedoch im Rhein-Main-Gebiet verbracht hatte. Auch die männliche DNS , die unter einem Fingernagel der Leiche sichergestellt worden war und für einen kurzen Hoffnungsschimmer gesorgt hatte, hatte sie nicht weitergebracht, denn sie war in keiner Datenbank erfasst.
Sämtliche Schiffe, die im tatrelevanten Zeitraum den Main befahren hatten, waren festgestellt und untersucht worden, wobei man
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