Bolero - Ein Nick-Sayler-Thriller (German Edition)
nicht zu spät kommen – Sie ruinieren meinen Rekord. Es läuft gerade ein Wettbewerb um den besten Fahrer auf dem Eastern Corridor. Und ich könnte gewinnen, wenn Sie es mir nicht versauen. Ich meine, Sie wissen schon, Officer. Tut mir leid.«
»Wo ist Ihr Mikrofon?«, fragte ich.
»Drücken Sie einfach den Kopf da«, erwiderte er.
»Po Digger«, sagte ich ins Mikro, »komm bitte nach vorn.«
»Sofort«, warf der Fahrer ein.
Niemand rührte sich.
»Po«, wiederholte ich.
Immer noch kam niemand nach vorn. Ich winkte dem Fahrer, die Türen zu schließen.
»Okay«, sagte ich und ging den Gang entlang. Ich wusste, wie der Junge aussah, weil ein paar Fotos von ihm auf seinem Skateboard an der Wand in der Wohnung seiner Mutter gehangen hatten.
»Gehen wir«, sagte ich, als ich ihn rechts vom Gang entdeckte, letzter Fensterplatz hinterste Reihe.
»Ich hab nix getan«, sagte Po wütend, holte seinen Rucksack aus der Gepäckablage und riss sein Skateboard unter dem Sitz hervor.
Seit den Tagen, als ich mich einer Reihe steingesichtiger Nonnen gegenübergesehen hatte, die ganz und gar nicht wie freundliche Pinguine gewirkt hatten, hatte ich die vertraute Litanei nicht mehr so häufig gehört wie in den letzten paar Tagen: Ich habe nichts getan.
Sobald wir mit den Füßen den Boden berührt hatten, fuhr der Bus mit quietschenden Reifen vom Bahnsteig weg, und ich führte Po zu einer Bank an der Mauer hinüber.
»Sie sin ein Bulle, nich?«, fragte Po.
»Ja«, erwiderte ich. »Wer sonst würde dich aus diesem Bus da rauskriegen?«
»Weiß nich«, antwortete Po. »Vielleicht jemand, der mich sucht.«
»Wer?«, fragte ich.
»Schon gut«, sagte er streitlustig. »Was woll’n Sie von mir?«
»Leer den Rucksack da aus«, sagte ich.
»Sie haben ein Durchsuchungsbefehl?«
»Weißt du, was das ist?«
»Sie wissen, was ich meine.«
»Leer den Rucksack aus«, wiederholte ich.
Er leerte den Inhalt seines kleinen Rucksacks auf die Bank. Ein Bündel T-Shirts, Shorts, ein Paar brandneuer Nike-Skaterschuhe, ein Dutzend Schokoriegel, Zeitschrift
Skateboarding.
»Mach den Reißverschluss auf!«, sagte ich und deutete auf die Seite des Rucksacks.
»Is nix drin«, sagte er.
Ich zog den Reißverschluss auf, tastete herum und entdeckte ein schlichtes rundes goldenes Medaillon ohne Gravur an einer einfachen Goldkette. In dem Medaillon, das für zwei Bilder gemacht war, war eine Seite leer. Auf der anderen Seite steckte das winzige Foto eines lachenden Kindes. Es war Gemma, Hadleys Tochter.
»Hier ist deine Durchsuchungserlaubnis, du kleines Arschloch«, sagte ich und hielt ihm das Medaillon vor das Gesicht.
»Sie müssen mir meine Rechte vorlesen«, sagte Po.
»Ja, was hast du denn sonst noch in der Tasche?«
»Nichts.«
»Mach diese Außentasche auf!«
»Nix drin«, sagte er.
Ich zog den Reißverschluss auf.
»Und hier sind deine Rechte«, sagte ich und holte einen Smith & Wessen .38 hervor, Wert auf der Straße etwa vierzig Dollar.
»Der is nich von mir«, sagte er.
»Illegaler Waffenbesitz bringt dich automatisch ein Jahr in den Knast. Möchtest du in den Knast?«
Der Junge wirkte verstört. Er war kein Gruppenvergewaltiger. Er war ein Skateboarder. Ein kaltblütiges kleines Arschloch von Skateboarder.
»Nein«, murmelte er.
»Vielleicht schicken sie dich nach Tryon.«
Sogleich zog sich der Junge zurück, die Schultern hochgezogen, verängstigt. Tryon ist eine Besserungsanstalt für Jugendliche im County Fulton, berüchtigt für Morde, Prügeleien, Vergewaltigungen und Selbstmorde.
»Nein«, sagte Po. »Nicht Tryon. Ich habe von Tryon gehört.«
»Also redest du mit mir, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und ich rede mit dir. Los!«, sagte ich und schob ihn zum Aufzug.
Als wir die Hauptebene erreicht hatten, brachte ich ihn in ein Café, das zum Glück klimatisiert war. Ich drückte ihn auf einenSitz, bestellte ein paar Cheeseburger und erzählte ihm von seinem Freund. Po wandte das Gesicht ab, so weit sein Hals es ihm erlauben wollte. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass ich ihn weinen sah. Vielleicht weinte er bloß um sich selbst.
59
Donnerstagabend, berichtete er mir, hingen sie in Chelsea herum, trotz des heftigen Regens, weil sie hofften, er würde aufhören, damit Red Hawk für den Wettkampf trainieren könnte. Aber der Regen wurde schlimmer, daher entschlossen sie sich, in eine Gasse zu gehen, die sie kannten, und dort etwas Gras zu rauchen.
Da sahen sie einen Typen mit einem Messer in der Gasse; es
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