Bolero - Ein Nick-Sayler-Thriller (German Edition)
dazu, weil ich keine Aufforderung benötige. Oder Zurückhaltung. Mir reicht es, keine andere Wahl zu haben. Was bisher noch nicht passiert war. Außer dem einen Mal, und das war ein Bursche, der Kinder gequält und vergewaltigt hatte, also zählt das nicht.
Ich stand gerade vor einer roten Ampel, da spielte mein Handy ein Nocturne von Chopin, was bedeutete, dass Sloane anrief.
»Nick«, sagte er. »Fahr zum Boat Basin. Albert hat die Benzinleitung auf der
Gwinnett
geflickt. Er bleibt bei der jungen Dame, und ich komme dich abholen. Das geht schneller.«
»Warum?«, fragte ich. »Ich müsste deinen Wagen auf dieser Seite des Flusses zurücklassen.«
»Ist schon gut«, sagte Sloane. »Ich kann ihn später holen – du wirst zwei Stunden brauchen, um zurückzukommen, wenn du fährst. Im Lincoln-Tunnel ist ein schwerer Unfall passiert, daher ist der Verkehr in beiden Richtungen gesperrt …«
»Nicht gut«, sagte ich. »Aber du sollst nicht in diesem Wetter rauskommen und mich holen – was ist denn los?«
»Wir wissen, wer sie ist.«
Teil Zwei
»Deinem Schicksal kannst du nicht entgehen, gleich, welche Straße du nimmst.«
Französisches Sprichwort
21
Die Glücksgöttin sieht auf Lügner mit einem Stirnrunzeln herab, also wählte sie diesen Augenblick, um es mir für all die Gelegenheiten heimzuzahlen, zu denen ich behauptet hatte, die Handyverbindung würde abbrechen, obwohl es nicht stimmte.
Bevor ich den Namen der Tänzerin erfahren konnte, fing Sloanes Stimme an zu knistern, und dann ging die Verbindung verloren. Ein erneuter Anruf hatte lediglich dieses unglaublich ärgerliche Besetztzeichen zur Folge. Also gab ich es auf und konzentrierte mich darauf, mich durch den dichten Verkehr zu winden und zur Seventy-Ninth Street zum Boat Basin zu fahren, wo ich einen Parkplatz gemietet habe und einen Slip für die
Gwinnett.
Das Boat Basin liegt dort, wo die westliche Neunundsiebzigste auf den Hudson River trifft, und besteht aus fünf Docks, die nahe an der Riverside Park Promenade liegen. Trotz seiner relativen Nähe zum Feinkostgeschäft Zabar’s und Gap ist das Boat Basin etwas Ungewöhnliches. Ein Ort, an dem seit vielen Jahrzehnten und über mehrere Verlegungen hinweg auf Hochglanz polierte Jachten harmonisch mit plumpen Hausbooten und schmutzigen Schleppern zusammenleben.
Mein Freund Mandell Goodhue, der langjährige Hafenmeister, sieht aus wie Käpt’n Ahab und verhält sich wie Karl Marx. Er soll die Liege- und Parkgebühren von jedem eintreiben, der das Boat Basin zum Anlegen eines Bootes oder Parken eines Autos benutzt. Und er führt seine Pflicht so aus, dass er von jedem seinen Möglichkeiten entsprechend nimmt – und jedem seinem Bedürfnis entsprechend gibt. Was bedeutet, dass die Jachten sehr viel zahlen und die armen Leute wesentlich weniger, und das Pärchen mit dem kranken Baby und dem leckenden Boot zahlt gar nichts. Solange die städtische Bürokratie mit sich selbst genug zu tun hat, kann der Hafenmeister sein zerlumptes Utopia unterstützen.
In einem klassischen Fall von Eile und Warten parkte ich den Mercedes, blickte über den Fluss hinaus und bemühte mich, einen Blick auf die
Gwinnett
zu erhalten. Von meinem Standpunkt aus verschmolzen das Grau des Himmels und das Grau des Flusses ineinander, und ich setzte Sehen bei schlechter Sicht auf meine Liste von Dingen, die ich noch zu lernen hatte – von Meriwether, der Bescheid wüsste. Wie Sicht berechnet wurde: 12 Prozent Sicht gegenüber 10 Prozent gegenüber null.
Der alte Mann, dem Zeitverschwendung ein Gräuel war, wäre gezwungen, die Geschwindigkeit herabzusetzen, wenn er ein Boot bei derart schlechtem Wetter manövrieren wollte. Es machte mir nichts aus, weitere zwanzig Minuten zu warten, da ich vielleicht gar nicht so eifrig darauf bedacht war, die Tänzerin wie alle anderen auch in eine Schublade zu stecken, mit ihrem eigenen Namen, ihrer eigenen Adresse und ihrer eigenen Liste von Sünden.
»Sie heißt Hadley Fielding«, sagte Sloane, sobald ich das Steuerrad übernahm und die
Gwinnett
wieder zurück auf die Küste von New Jersey richtete.
»Sie war Mitglied des New York City Ballet. Und du hast recht gehabt: Eine Weile lang war sie dessen Primaballerina.«
»Und was dann?«, fragte ich.
»Vor ein paar Jahren hat sie sich zurückgezogen«, erwiderte Sloane.
»Weißt du den Grund dafür?«
»Persönliche Gründe«, entgegnete Sloane. »Alle Berichte, die ich gesehen habe, waren sehr vage. Dann bin ich dich
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