Bollinger und die Barbaren
KAPITEL
N ach dem Brand auf dem Wackesberg herrschte eine eigenartige Stimmung in Schauren.
Ich bemerkte es sofort, als ich in der Mittagspause durch den Ort ging. Es waren viel mehr Leute als sonst auf der Straße.
Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und redeten durcheinander. Ich konnte nicht ausmachen, ob die Leute verängstigt waren
– schließlich hatte es einen Toten gegeben – oder ob ihre Aufregung etwas damit zu tun hatte, dass sie noch weitere Sensationen
erwarteten.
Schon am Vormittag waren Bürger auf dem Revier erschienen, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Louis Straßer hatte
jeden geduldig beschieden, dass in Anbetracht der kurzen Zeit noch keine Ermittlungsergebnisse vorliegen konnten.
Die Leute waren völlig aus dem Häuschen. Dabei schien es ihnen weniger um das Schicksal des Erhängten zu gehen als um den
Wackesberg selbst. Dieses verkommene Grundstück hatte eine besondere Bedeutung für den Ort, das spürte ich. Aber ich konnte
mir nicht erklären, was genau es damit auf sich hatte. Ich bemerkte jedoch, dass sich etwas tat. Mit der kleinen Gemeinde
ging eine Verwandlung vor sich: Die Vergangenheit war durch das Feuer erwacht.
»Der Wackesberg ist verwunschen«, behauptete Alain Miller. »Dort gehen Geister um.«
»Quatsch«, widersprach Straßer. »Da war früher eine große Schmiede. Für Landwirtschaftsmaschinen. Aber durch den Maschinenring
können sich die Bauern heute ihre Traktoren und Mähdrescher leihen, wenn sie sie brauchen, leasen sagt man. Das |31| ist günstiger, als sie zu kaufen und dann teure Reparaturen zu bezahlen. Die Schmiede hat schon in den Achtzigern schließen
müssen. Heute ist der Wackesberg nur noch ein Schandfleck, der den Leuten auf der Seele lastet wie eine Hypothek. Deshalb
sind sie so aufgekratzt. Jetzt, da das alte Dreckloch abgebrannt ist, könnte sich dort was tun. Wäre nur zum Wohl der Gemeinde.«
»Die Alten sagen, wer dort hingeht, zieht den Tod an«, erklärte Miller düster. »Es ist exterritoriales Gebiet. Die Schaurener
haben da nichts verloren, und wer alle Warnungen in den Wind schlägt, den holt der Teufel. Wie den Schmied, der bankrottgegangen
ist. Er hat sich totgesoffen.«
Ich fand es an der Zeit, mich einzumischen. »Vielleicht hat der Brand ja auch was Gutes: Wenn es wirklich so einen Aberglauben
gibt, dann haben die Ereignisse den Knoten gelöst – und man kann jetzt daran gehen, aufzuräumen. Mit der Ruine und mit dem
Aberglauben.«
»Und der Tote?«, fragte Miller.
»Tja, das ist eine Sache für sich. Wenn er sich erhängt hat, warum ausgerechnet dort? Und wenn er ermordet worden ist ...«
»Dann waren es die Geister vom Wackesberg!«, brach es aus Miller heraus.
Irgendwie wirkte er anders als sonst. Hatten ihn in der Nacht die Aufregungen des Einsatzes noch völlig vereinnahmt, so wurde
er jetzt immer nervöser, je mehr die Anspannung von uns wich. Ich führte das darauf zurück, dass er nicht geschlafen hatte.
»Alain, ich glaube, es ist Zeit, dass Sie sich aufs Ohr legen.«
Miller erschrak. »Wollen Sie mich loswerden, patron ?«
»Ich möchte, dass Sie zur Ruhe kommen. Sie sind übernächtigt. Ist ja auch kein Wunder. Na los, gehen Sie schon nach Hause!«
Miller schaute Straßer an. »Er hat recht«, sagte der. »Leg dich aufs Ohr!«
»Das geht nicht. Ich muss heute noch nach Forbach. Meinen neuen Wagen abholen.«
|32| »Das kannst du morgen auch noch«, sagte Louis.
Doch Miller war schon in seine Jacke geschlüpft.
»Soll ich später noch mal vorbeischauen?«
»Ist nicht nötig, Alain«, sagte ich. »Wir kommen schon klar hier.«
A ls es ruhiger wurde, rief ich Lotte an. Ich musste das Telefon lange klingeln lassen, bis sie abhob. Sie klang verschlafen
und übellaunig.
»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte ich.
»Das geht nicht. Mein Gatte kommt vorzeitig von seiner Reise zurück.«
»Wieso das denn?«
»Wegen des Brandes natürlich. Die Schaurener sind völlig durcheinander. Da gehört der Kapitän auf die Brücke.«
Sie war ganz anders als am Abend zuvor.
»Was ist geschehen? Du bist so verändert.«
Sie entzog sich mir mit Ausflüchten – Migräne, das Wetter, das Feuer. Aber ich blieb hart, ich wollte wissen, was los war.
»Du warst nicht sehr diskret heute Nacht, Felix. Stell dir vor, jemand hätte dich gesehen, am Fenster meines Schlafzimmers!
Ich bin die Frau des Bürgermeisters. Und dir würde das auch schaden.«
Ich hatte Mühe, mich zu
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