Bollinger und die Barbaren
Er musste sich schon als Kind in einer feindseligen Umgebung behaupten ...«
»Ja, diese Hagenaus sind ein übler Menschenschlag.«
»Ich meine nicht seine Familie, ich meine die Schaurener. Die sind weit schlimmer als die Hagenaus.«
Offensichtlich hatten die Einsiedler sie gegen den Ort eingenommen.
»Wir verliebten uns ineinander. Charles war der Mann, auf den ich gewartet hatte. Er versprach, mich zum Theater zu bringen
...«
Dazu konnte ich nicht schweigen. »Dieser Schwindler! Der hat doch noch nie ein Theater von innen gesehen.«
Agneta schaute streng. »Bitte! Er ist nicht so, wie Sie denken. Er bot mir an, mich nach Lothringen mitzunehmen. Er hatte
natürlich erfahren, dass meine Familie ihre schönste Zeit dort verbracht hatte. Ich aber – ja, Sie werden sich wundern, ich
lehnte zuerst ab. Ich bestand darauf, vorher zu heiraten.«
Ich sah Charles triumphieren: In Schauren konnte er froh sein, wenn eine Ziege für ihn übrig blieb. In Schlesien aber bekam
er mit ein paar billigen Tricks die Schönste ab. So ungerecht ging es auf der Welt zu.
»Wir fuhren in die Stadt, nach Katowice. Dort gingen wir schnurstracks zum Pfarrer. Der gute Mann machte eine Ausnahme. Normalerweise
nimmt man es in Polen mit dem Aufgebot |96| sehr genau – die Hagenaus hatten ihre Geschäfte abgeschlossen und mussten dringend nach Hause zurück.«
»Welche Geschäfte denn?«, fragte ich so arglos wie möglich.
Sie antwortete, ohne zu zögern: »Ich glaube, sie hatten Unfallautos verkauft. Die Polen sind geschickt mit solchen Arbeiten,
sie machen aus einem Schrottwagen in null Komma nix wieder ein schmuckes Autochen.«
Meines Wissens verschafften sich die Spezialisten im Osten ihren Rohstoff auf andere Weise als durch fahrende Händler aus
dem Westen – der arme Alain Miller konnte ein Lied davon singen. Aber gut, die Geschichte war abstrus genug, da waren die
Geschäftsverbindungen der Hagenaus nach Polen noch der kleinste Stolperstein.
»Wir mussten also kein Aufgebot bestellen. Der Pfarrer traute uns gleich auf der Stelle. Und am Tag darauf saßen wir im Zug
und fuhren gen Westen.«
»Die Hagenaus – im Zug?«
»Klar doch, die Autos, mit denen sie gekommen waren, hatten sie ja mittlerweile verkauft.«
»Ich dachte, es waren Schrottautos?«
»Ja, aber sie fuhren noch. Auch die Hagenaus haben ein Händchen für kaputte Autos. Ich habe schon gesehen, wie sie Fahrzeuge
flottbekamen, die vorher nicht mal mehr einen funktionierenden Motor besaßen.«
In Wirklichkeit war es wahrscheinlich so: Es handelte sich nicht um Schrottautos, sondern um intakte Wagen, die die Hagenaus
gestohlen hatten und dann in Polen losschlugen. Ich nahm mir vor, das BKA auf die ausländischen Aktivitäten dieser sonderbaren
Familie hinzuweisen.
»Am Anfang war alles sehr schön. Wir sprachen oft miteinander, wir fuhren nach Metz und Saarbrücken. Aber als mir klar wurde,
dass hier weit und breit kein Theater war, in dem Charles mich hätte unterbringen können, wurde ich unruhig. Ich drängte Charles,
etwas zu tun – ich sang und trug ihm meine besten Rollen vor. Er war begeistert. Aber er konnte nicht viel machen.«
|97| »Wenn Sie nach Polen zurückwollen, werde ich Ihnen helfen, Agneta.«
Wieder berührte sie meine Hand. Ich glaubte, Tränen in ihren Augen zu sehen.
»Monsieur, Sie sollten eines wissen: Ich bin gläubige Katholikin – und die Ehe ist ein Sakrament. Niemals werde ich Charles
verlassen. Im Übrigen ist er auch ein guter Ehemann.«
Das schnürte mir den Hals zu.
»Und warum sind Sie dann zu uns ins Auto geschlüpft?«
Nun schluchzte sie. »Es gibt ab und zu Streit. Immer wegen der gleichen Sache. Aber ich möchte nicht darüber reden. Es schmerzt
zu sehr. Diesmal aber ist Charles zu weit gegangen ...«
»Er hat Sie geschlagen ...«
»Es ist nicht nur Charles. Luc mag mich nicht ...« Sie schluchzte noch mehr.
»Wenn sie das wieder tun, erlauben Sie mir dann, Ihnen zu helfen, Agneta?«
Sie hörte auf zu weinen. Das Taschentuch verschwand in ihrer kleinen Faust.
»Er kann nichts dafür. Es ist der Alkohol und der schlechte Einfluss. Sein Bruder Luc ist ein Sadist, und der Vater – nun,
er ist seit dem Tod der Mutter verbittert. Die Familie hat viel durchlitten, das kann man sich gar nicht vorstellen ...«
Draußen knatterte ein Wagen.
Agneta sprang auf.
»Schnell! Versteck dich irgendwo!« Sie lief verschreckt in der Küche umher. »Die werden dich totschlagen, wenn sie dich
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