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Bollinger und die Barbaren

Titel: Bollinger und die Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Lothringer
     sie nennen? Petit-Varsovie . Klein-Warschau. Wir sprechen seit Generationen Französisch. Die polnische Regierung hat uns das ausdrücklich erlaubt. Während
     sie den Schlesiern verboten hat, Deutsch zu reden. Deshalb sind die Schlesier so schlecht auf uns Franzosen zu sprechen. Mein
     Großvater hat fast sein ganzes Leben lang in der Grube von La Houve bei Creutzwald gearbeitet. Mein Vater ist hier aufgewachsen.
     Ich kam aber in Polen zur Welt. 1959 gab es einen großen Streik im Osten Frankreichs. Auch hier in der Gegend ging es hoch
     her. In Paris waren sie alarmiert. Die Polizei ging hart gegen die Bergarbeiter vor. Alles, was keinen Pass hatte, wurde rausgeschmissen.
     Sie holten meinen Vater auf der Arbeit ab. Ihm und seinen Kollegen wurde es verboten, noch nach Hause zu gehen und sich frische
     Sachen anzuziehen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass der Gendarm von Schauren – er war ein guter Mensch und hieß Straßer
     ...« – Das musste der Vater von Louis gewesen sein, 1959 war Louis noch nicht im Dienst gewesen. – ». .. er hat meinem Vater
     heimlich erlaubt, sich noch schnell zu verabschieden. Meine Mutter hat einen Koffer gepackt. Mit dem Allernotwendigsten. Sie
     verstand nicht, was vorging, und dachte, mein Vater müsste ins Gefängnis. Sie hängte sich an ihn, der Polizist versuchte,
     sie zu beruhigen, aber sie glaubte ihm kein Wort. Er musste sie ins Schlafzimmer einschließen. Sie schrie, als sie hörte,
     wie sich hinter meinem Vater die Haustür schloss. Es war schrecklich. Sie war ganz allein. Nur auf sich gestellt. Sie war
     damals noch sehr jung. Mein Vater kam nicht wieder. Die anderen sagten ihr: Er ist nach Hause gegangen. Sie dachte, man wollte
     ihr damit beibringen, dass er tot sei, dass sie ihn umgebracht hätten. Ein paar Wochen später ist sie |94| ihm dann gefolgt. Nach Schlesien. Zum Glück hatte er wieder eine Arbeit – aber das Leben dort war härter als in Lothringen.«
    »Und wieso sind Sie jetzt hier?«
    Agneta seufzte. »Die Liebe geht seltsame Wege.«
    Der Satz traf mich wie ein tödlicher Schuss. Ich wollte nicht mehr wissen. Aber Agneta schloss die Augen und begann zu erzählen
     wie eine Frau, die längst alle Hoffnungen auf die Erfüllung ihrer Träume aufgegeben hat und sich dennoch gerne an die Zeit
     der Verliebtheit erinnert.
    »Ich arbeitete im Kaufhaus unseres Ortes.« Sie lachte auf. »Kaufhaus – was für ein Wort! Das war kein ›Migros‹ oder etwas,
     was Sie kennen. Es war bloß eine düstere, kalte Lagerhalle. In der Ecke schimmelten die Waren, die keiner wollte, und das,
     was alle wollten, gab es so gut wie nie. Die Leute verachteten uns, weil sie glaubten, wir würden die raren Dinge verschieben
     oder selbst mit nach Hause nehmen – und wissen Sie was: Sie hatten recht. Was tut man nicht alles, wenn man in Not ist, nicht
     wahr, monsieur le commissaire ?«
    Solange sie über derlei allgemeine Dinge sprach, quälte sie mein Herz nicht. Also nickte ich heftig, um sie zu ermuntern,
     beim Thema zu bleiben.
    »Nun, eines Tages hielt ein Wagen vor der Tür, und drei Männer in Anzügen stiegen aus. Sie schauten sich im Kaufhaus um, kauften
     diese und jene Kleinigkeit – eher aus Verlegenheit und Höflichkeit, als dass sie diese Dinge wirklich zu brauchen schienen.
     Wir Mädchen steckten die Köpfe zusammen. Als ich hörte, dass die Männer untereinander Französisch sprachen, wandte ich mich
     in ihrer Sprache an sie. Meine Eltern sprachen zu Hause Französisch. Ich glaube, ich sagte so etwas wie: ›Können wir Ihnen
     helfen?‹ Sie lachten bloß – wahrscheinlich wegen meiner schlechten Aussprache. Aber dann kaufte einer der Männer eine Plastikblume,
     die schon lange in der einzigen Vitrine des Lagers lag – und schenkte sie mir. Sie glauben ja nicht, was so eine Geste in
     einem verbitterten Mädchenherzen anrichtet.«
    »War es ...?«
    |95| Sie nickte zögernd – als hätte ich ihr ein Geheimnis entlockt.
    »Ja, es war Charles. Mein Mann.«
    Was für ein billiger Trick! Fährt dieser Barbar aus dem abgelegenen Schauren nach Polen und erobert diese Schönheit mit einer
     verstaubten Plastikblume!
    »Wir tranken Kaffee zusammen. Und dabei entdeckten Charles und ich unsere gemeinsame Liebe zum Theater ...«
    Ich konnte nicht anders: Ich lachte höhnisch auf. Sie fasste nach meiner Hand.
    »Tun Sie mir einen Gefallen: Denken Sie nicht schlecht über Charles! Er hat eine raue Schale, aber sein Kern ist weich und
     menschlich.

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