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Bollinger und die Barbaren

Titel: Bollinger und die Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Holz aufgerissen, als hätte ein Irrer mit
     einem Beil den Boden aufgehackt.
    Hinter der nächsten Tür ein niedriger Raum mit einem Tisch, vier Stühlen und einem alten Fernseher, dessen Antenne aus einem |91| abenteuerlich gebogenen Drahtgewirr bestand. Der Fernseher lief stumm. Das Bild war schwarzweiß und grobkörnig. Es schien
     ein französischer Sender zu sein. Irgendein Verkaufsprogramm. Eine Endlosschleife mit zwei steifen Menschen, die ihre Münder
     lustlos bewegten, um den Zuschauern nutzlose Dinge anzudrehen. Also hatte sich Louis geirrt: Die Hagenaus sahen fern, zumindest
     Agneta tat es.
    Ich ging wieder in den Flur zurück. Jetzt erst sah ich die finstere Steintreppe. Sie führte hinab. In den Keller. Die grobe
     Tür aus Holzlatten stand weit offen. Ich spürte, dass sich da unten jemand aufhielt. Es wehte Wärme herauf. Menschliche Wärme.
     Agneta.
    Ich stieg die enge Treppe hinab, schon nach wenigen Schritten ging die Lattendecke in Fels über. Ich stieß mir den Kopf an,
     es tat weh.
    Als ich unten ankam, fröstelte mich. Es war kühl in dem grob behauenen Gewölbe. Die nackten Felswände waren feucht.
    Ein scharrendes Geräusch. Ich folgte dem Geräusch. Wieder eine Tür aus Latten, dahinter schwaches Licht. Bloß eine Kerze.
    Agneta kniete auf der Erde und wusch die Wäsche. In einem Bottich mit Seifenwasser. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt und
     rieb die groben Arbeitssachen der Hagenaus auf einem blechernen Waschbrett.
    »Agneta!«
    Sie hielt mitten in der Bewegung inne und – schrie. Sie schrie sich die Lunge aus dem Leib. In dem Felsengewölbe klang ihr
     Schreien wie ein Todeskampf.
    Ich legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sie war kalt wie Eis. Ich half ihr auf die Beine. Sie schluchzte in meinen
     Armen.
     
    W enig später schob Agneta mit einer Handbewegung den Unrat vom Tisch und stellte mir eine Tasse hin. Dann goss sie das kochende
     Wasser vom Herd auf das Kaffeepulver. Den Kaffee hatte |92| sie vorher mit einer alten Handmühle gemahlen. Sie goss Milch in meinen Kaffee. Zucker musste sie erst in den überquellenden
     Schränken suchen. Er fand sich in einer Steingutdose ohne Deckel und war verklumpt. Agneta löste ihn mit den Fingernägeln
     und gab ihn bröckchenweise in meinen Kaffee, auf dem noch Inseln aus Kaffeepulver schwammen. Erst dann setzte sie sich zu
     mir.
    Agneta sprach lupenreines Französisch. Mit einem harten polnischen Akzent, an dem ich mich nicht satthören konnte.
    »Entschuldigen Sie mein Verhalten. Aber wir – ich meine: meine richtige Familie, nicht die Hagenaus – wir sind es gewohnt,
     unsere Sprache zu verbergen. Ob wir Polnisch sprechen oder Französisch. Wir geben uns erst zu erkennen, wenn wir uns ganz
     sicher sind, dass wir es mit wohlmeinenden Menschen zu tun haben. Das hat etwas mit unserer Geschichte zu tun. Wir sind keine
     Polen, wir sind aber auch keine Franzosen. Für die Polen sind wir Franzosen, für die Franzosen Polen.«
    Ich wurde nicht schlau aus dem, was sie sagte, aber ich beschloss, zu schweigen und sie reden zu lassen. Wenn sie sich schon
     einmal dazu durchgerungen hatte, den Mund aufzumachen, wollte ich sie nicht unterbrechen.
    »Kennen Sie die Geschichte von Stanislaus Leszczynski? Sicher kennen Sie sie nicht. Hier nennen sie ihn le bon roi . Er ist durch ganz Europa geflüchtet. Als er schließlich auf den polnischen Thron verzichtete, bekam er Lothringen als Trostpreis.
     Seine Tochter Maria hat er mit Louis XV. verheiratet. Den Lothringern hat Stanislaus die Kultur und die Freude am Leben gebracht.
     Aber dann ist er eines Tages nach einem rauschenden Fest am Kamin eingeschlafen, ein Funke sprang ihm in den Pelzmantel, und
     er verbrannte. In Nancy gibt es einen Platz, der nach ihm benannt ist. Er gehört zum Weltkulturerbe.«
    Ich war schon mehrmals auf dem berühmten Platz gewesen. Inmitten der vergoldeten Gitter und barocken Skulpturen fühlte man
     sich wie im Salon eines kaiserlichen Schlosses. Ich wunderte mich, dass Agneta den Platz in Nancy kannte. Ich hatte angenommen |93| , dass sie das Haus der Hagenaus nur verließ, um im Supermarkt von Schauren einzukaufen. Ich hatte plötzlich eine ganz andere
     Person vor mir. Nicht mehr das stumme, scheue Reh. Nein, eine gewandte, selbstsichere, gebildete junge Frau.
    »Ich komme aus Schlesien. Dort nennen sie unser Dorf Maly-Parisa , das ist Polnisch und heißt Klein-Paris. Hier in Lothringen gibt es auch polnische Siedlungen. Wissen Sie, wie die

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