Bollinger und die Barbaren
Lage ist ernst.«
Ich nahm vor dem riesigen Schreibtisch aus schwarzem Tropenholz Platz und blickte auf den Bücherschrank. Er enthielt meterweise
in grünes Leder gebundene Gesetzessammlungen. Die Bücher machten nicht den Eindruck, als würden sie oft benutzt werden. An
der Wand neben der Tür hing eine mittelformatige Ansicht von Schauren – ein Ölgemälde. Der Blick auf das Dorf war bieder und
uninspiriert, es war dem Maler mehr um Vollständigkeit als um die Atmosphäre gegangen. Über der Tür hing das gerahmte Foto
des Staatspräsidenten. Im rechten unteren Winkel des Rahmens klebte die blau-weiß-rote Staatskokarde.
Pierre Brück pflegte in seinem Rathaus den gleichen unaufwendigen Stil wie zu Hause: Er sammelte viel dunkles Holz um sich.
Das Notwendige war vorhanden, für das Auge gab es nur das, was unumgänglich war. Auf Individualität oder gar einen persönlichen
Stil legte er keinen Wert. Pierre Brück gehörte nicht zu der Sorte Kommunalpolitiker, die Modernität, Unverwechselbarkeit
und Kunstsinn zeigen wollten, indem sie ihre Büros mit privaten Erinnerungsstücken und eigenwilligen Bekenntnissen zur modernen
Kunst schmückten. Pierre Brück hatte eine solche Staffage nicht nötig. Wer sein Büro betrat, sollte gleich merken: |104| Hier residierte ein Mann mit Macht, der seine Besucher nicht für sich einnehmen musste.
Jetzt erst wandte er sich mir zu. Er durchquerte das weiträumige Zimmer und nahm in seinem Chefsessel Platz. Die Dielen knarrten
noch unter seinem schweren Schritt, als er schon saß.
»Ich habe Sie hergebeten, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nacht in unser Rathaus eingebrochen worden ist.«
Ich fuhr hoch. »Was?«
Brück machte eine besänftigende Bewegung. »Lassen Sie uns die Sache in Ruhe besprechen. Wir dürfen auf keinen Fall Aufsehen
verursachen.«
»Wo ist der Einbruch geschehen? Ich muss sofort die Kollegen vom Erkennungsdienst anrufen.«
Brück seufzte. Er wirkte unendlich genervt. »Das mit dem Erkennungsdienst – das können wir uns sparen. Die Täter haben ja
bloß ein Kellerfenster eingeschlagen. Rückwärtig. Da liegt unser Parkplatz. Sie wussten genau, was sie wollten. Sie sind durch
den Keller ins Treppenhaus und dann hoch ins Schauren-Zimmer.«
»Ins Schauren-Zimmer?«
»Ja. Es ist ja eigentlich nur eine Besenkammer. Aber wir lagern dort den Grundstock unseres Heimatmuseums. Die Sammlung ist
noch im Aufbau.« Brück griff nach seinem Telefon und wählte eine zweistellige Nummer. »Komm doch mal hoch. Die Polizei ist
jetzt da.« Er legte auf. »Madame Chariot ist für das Museum verantwortlich.«
»Die Frau unseres Arztes?«
»Ja. Ich habe sie extra deswegen eingestellt. Eine befristete ABM-Stelle. Die Arme langweilte sich zu Hause zu Tode. Und sie
ist ausgebildete Bibliothekarin.«
»Bibliothekarin? Aber Sie brauchen dazu doch eine Museumspädagogin.«
»Das ist doch dasselbe, Bollinger. Kümmern Sie sich nicht darum. Tun Sie Ihre Arbeit. Bringen Sie das gestohlene Telefon zurück!«
|105| »Man hat Ihnen ein Telefon gestohlen?«, fragte ich verblüfft.
»Natürlich nicht irgendein Telefon, Bollinger. Es ist ...« Er tat einen tiefen Seufzer, »das Feldtelefon von Marschall Philippe
Pétain. Da staunen Sie, was?«
»Das Feldtelefon aus Vichy befand sich hier in Schauren?«, fragte ich ungläubig.
»Vergessen Sie Vichy! Warum müsst ihr Deutschen immer auf Vichy herumreiten? Vichy war nur eine Episode. Seine große Zeit
hatte der Marschall im Ersten Weltkrieg.« Er streckte sich bedeutungsvoll. »Er war ein Kriegsheld. Der Oberbefehlshaber, der
unsere Truppen zum Sieg geführt hat. Als in Verdun gekämpft wurde, hatte Pétain für ein paar Wochen sein Hauptquartier im
Rathaus von Schauren. Denken Sie nur: Die Grande Armée wurde von diesem Zimmer aus befehligt! Spüren Sie jetzt, was mich hier
beseelt?«
Ich schaute mich um. Viel war vom Geist des Marschalls nicht mehr zu bemerken. Da wurde zaghaft angeklopft.
Brück brüllte: »Herein!«, und Madame Chariot trat ein.
Ich hatte sie schon mal in der Praxis unseres Arztes gesehen. Madame machte dort immer einen etwas verschreckten Eindruck,
schien nicht recht zu wissen, wie sie ihrem Gatten behilflich sein konnte, wenn dessen Wartezimmer mal wieder voller Leute
saß. Madame Chariot passte nicht zu ihrem Mann. Der Doktor war ein knorriger, alter Kerl, der vor nichts Respekt hatte – außer
vor dem Tod, den er als seinen persönlichen Feind ansah.
Weitere Kostenlose Bücher