Bollinger und die Barbaren
hier
bei mir finden.«
Wir rannten auf den Flur. Sie riss die Türen eines Besenschrankes auf. »Schnell, hier hinein! Ich versuche, sie abzulenken.
Es dauert nicht lange. Sie müssen bestimmt gleich wieder weg. Wahrscheinlich haben sie bloß etwas vergessen.«
Im Schrank roch es nach Verwesung. Gerne hätte ich mir die Nase zugehalten, aber ich wagte nicht, mich zu bewegen.
|98| »Bring endlich die Küche in Ordnung, du Schlampe!«, hörte ich den alten Hagenau krächzen.
»Rede nicht so mit meiner Frau!«, fuhr Charles ihn an.
»Vater hat recht«, sagte der andere Sohn. »Die ist doch zu gar nichts nütze. Höchstens zum Rammeln.«
»Als ob du das beurteilen könntest«, entgegnete sein Bruder. »Du kennst dich doch besser bei Ziegen und Schafen aus als bei
Frauen.«
Agneta wies sie zurecht: »Schluss mit dem Geschwätz! Das kann ja kein vernünftiger Mensch aushalten. Stellt euch vor, es hört
euch jemand zu. Was würde der bloß von der Familie denken?«
Ich hörte sie so deutlich, als säßen sie bei mir im Schrank. Das Gespräch wurde trotz der Lautstärke in einem kühlen, ja gelassenen
Ton geführt – sie schienen sich immer so zu unterhalten.
»Los, tragt die Benzinkanister in den Schuppen!«, befahl der alte Hagenau.
»Du kannst mich mal«, widersprach Charles. »Ich habe das Zeug schon in den Wagen geschleppt, ausladen könnt ihr!«
»Ich weiß doch, was du willst«, sagte Luc, der ältere, und lachte spöttisch. »Du willst uns nur aus dem Haus haben, damit
du wieder über die polnische Schlampe drüberkannst.«
Ein Klatschen. Ein erzürnter Aufschrei. Das Machtwort des Alten. Dann war Ruhe. Offensichtlich hatte Agneta ihrem Schwager
Luc eine Ohrfeige versetzt. Auch das schien nichts Ungewöhnliches im Hause Hagenau zu sein. Wenig später hörte ich den alten
Hagenau und Luc draußen mit Blechkanistern hantieren.
In der Küche begann Agneta zu schrubben. Charles scharwenzelte um sie herum.
»Ich mag es ja auch nicht, wenn sie so sind. Aber ich habe nun mal keine andere Familie.«
»Doch, mich.«
»Aber du bist doch ...«
»Was? Bloß die polnische Schlampe?«
|99| »Habe ich dich jemals so genannt, Agneta?«
»Nein, hast du nicht. Aber das, was du mir in Polen versprochen hast, das hast du auch nicht gehalten.«
Sie sprach ihre Sätze wie einen Text. Sie spielte. Für mich. Für ihr Publikum im Wandschrank.
»Mensch, Agneta, die Zeiten haben sich geändert«, stammelte Charles. »Nichts ist mehr einfach heutzutage.«
»Willst du damit sagen, du hättest früher bessere Beziehungen gehabt?«
»Was ist bloß mit dir los? Du bist doch sonst nicht so. Warum gibst du heute keine Ruhe? Wir könnten es so schön haben. Warum
musst du unbedingt zum Theater?«
»Weil ich dazu geboren bin, du Trottel.«
»Nenn mich nicht Trottel, sonst setzt’s was!«
Plötzlich stand Charles vor dem Schrank. Ich hörte ein Knarren. Er bewegte den Schlüssel. Ich wagte nicht zu atmen.
»Was willst du an dem Schrank?! Ich kann aufräumen und aufräumen – und ihr Drecksäcke, ihr reißt alles wieder aus den Schränken
und Schubladen heraus. Wie im Kindergarten.«
Charles ließ den Schlüssel los.
»Aber ich wollte doch nur meine Stiefel wegstellen. Wo du immer sagst, ich soll die Stiefel nicht in der Wohnung herumstehen
lassen ...«
Agneta war plötzlich ganz nah. »Laß doch die Stiefel! Dein Bruder und der Alte haben mit dem Benzin zu tun ... Lass die draußen
rumfuhrwerken! Wir verziehen uns ins Schlafzimmer ...«
Ein Schmatzen. Sie küssten sich.
»So kenn ich dich ja gar nicht. Sonst bin immer ich der, der bittet und bettelt und dann doch nicht zum Zug kommt, weil du
mal wieder Migräne hast oder ein Reißen im Rücken oder ...«
Er atmete schwer – und ich verspürte einen heftigen Hustenreiz. Die beiden waren mir so nahe, ein winziges Räuspern, und ich
wäre entdeckt worden. Ich schloss die Augen und versuchte mich auf etwas zu konzentrieren, was nicht mit Agneta und den Hagenaus
zu tun hatte.
|100| Lotte! Ich dachte an Lotte. Ausgerechnet jetzt. Was sie wohl sagen würde, wenn sie mich hier sehen könnte: im Schrank der
Hagenaus versteckt, während sich Charles über seine Frau hermachte? Ja, jetzt sehnte ich mich nach ihr. Nach ihrer Sauberkeit,
ihrer Heiterkeit, ihrem ehrlichen Lachen. Der Mensch lernt das Gute, das er hat, erst zu schätzen, wenn er bis zum Hals im
Dreck steckt. Ich steckte noch tiefer im Dreck. Viel tiefer.
»Du bist ja schon
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