Bomann, Corinna - Clockwork Spiders
Spuren des desaströsen Ballabends verschwanden.
Es war dem Butler tatsächlich gelungen, die gewünschten Bücher aufzutreiben und damit nicht von ihren Eltern erwischt zu werden.
Bücher über Anatomie und Spurensuche und sogar ein Werk von Dr. Bell persönlich hatte Violet samt den Artikeln aus ihrer Sammlung über ihr Bett und den Fußboden verteilt.
Sogar ein paar Morgenzeitungen hatte Alfred ihr mitgebracht, in denen bereits über Lord Stantons Tod berichtet wurde.
Die Presse ging nicht zimperlich mit dem Sachverhalt um, einer der Reporter äußerte doch tatsächlich die Vermutung, dass es eine Rivalität zwischen ihrem Vater und Lord Stanton gegeben hätte, die auf dem Ballabend ein tragisches Ende fand. Gegen diesen Unsinn würde Lord Reginald gerichtlich vorgehen, da war sich Violet sicher.
Nachdem sie mit dem Studium der Zeitungen fertig war, wandte sich Violet den Büchern zu.
Seit damit begonnen wurde, Menschen durch den Einsatz mechanischer Elemente zu verbessern, waren auch die Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Anatomie zahlreicher geworden. Lust, sich solch eine Verbesserung einbauen zu lassen, hatten in der Regel nur neureiche Emporkömmlinge, die sich um jeden Preis vom alten Adel abheben wollten. Violet streifte diese Artikel allerdings bloß, denn interessanter schien ihr der Aspekt zu sein, welche Arten von Verletzungen Waffen hinterlassen konnten und welche Folgen Gifte auf den Organismus hatten. Vielleicht war Lord Stanton ja wirklich vergiftet worden.
Je weiter sie las, desto klarer wurde es für sie: Sie musste der Leichenbeschau beiwohnen! Doch wie sollte sie in das Coroner’s Office kommen, das sich in der London Morgue befand? Und wie lange würde Lord Stanton dort liegen?
Die Mahnung von Dr. Byrton hallte in ihrem Kopf wider, lange durften Ermittler mit der Obduktion nicht warten, das schrieb auch Dr. Bell; wahrscheinlich war die Untersuchung bereits in den frühen Morgenstunden durchgeführt worden. Und Lord Stanton? Verblieb er bis zu seiner Bestattung in der Morgue? Seine Familie würde doch sicher darauf erpicht sein, ihn so bald wie möglich in seine Grablege auf dem Highgate Cemetery zu bringen.
Ihr fiel nur eine Adresse ein, an die sie sich wenden konnte.
Rasch erhob sie sich vom Bett und kämpfte sich in ein hochgeschlossenes, dunkelblaues Nachmittagskleid mit bestimmt tausend Knöpfen, in dem sie aussah, als würde sie einen ganz normalen Einkaufsbummel erledigen wollen.
Auf dem Weg nach unten begegnete sie Alfred, der mit einem kleinen Silbertablett dem Zimmer ihrer Mutter zustrebte. Schmerzpulver sprudelte in dem hohen Kristallglas neben einer kleinen Wasserkaraffe.
»Gut, dass ich Sie treffe, Alfred!«, rief Violet freudig aus. »Ich wollte gerade zu Ihnen.«
»Noch mehr Bücher?« Alfred runzelte die Stirn.
»Nein, keine Bücher. Etwas anderes. Ich nehme an, meine Mutter wird den Lunch nicht im Speisezimmer einnehmen?«
Alfred schüttelte den Kopf. »Nein, Mylady.«
Das passte gut! So konnte sie ungestört das Haus verlassen.
»Wie gehen die Arbeiten im Haus voran?«
»Bestens, Mylady.« Alfred blickte sie fragend an. »Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«
»Wenn die Dienstmädchen wissen, was sie zu tun haben und meine Mutter keinen Lunch will, wäre es doch vielleicht möglich, dass Sie mich zu einem kleinen Rundgang durch die Stadt begleiten, nicht wahr?«
»Ich wüsste nicht, was dagegenspräche. Die Mädchen wissen tatsächlich, was sie zu tun haben, und Mylady …«
»Was ist mit meinem Vater?«
»Der wird vor heute Abend nicht zurück sein. Auch wenn ich keine Ahnung von Politik habe, vermute ich doch, dass es so einiges zu bereden gibt. Außerdem muss die Nachfolge von Lord Stanton festgelegt werden.«
»Gut, dann treffen wir uns gleich im Foyer.«
»Und Sie haben nicht die Güte, mir zu sagen, wohin es gehen soll?«
»Ich kann Ihnen einstweilen nur verraten, dass die Sache von höchster Wichtigkeit ist.« Damit wandte sich Violet um und strebte der Kleiderkammer zu, um sich ihr wollenes Cape zu holen. Sie hätte Mary rufen können, aber Violet liebte den Geruch nach Gallseife, altem Parfüm und Zedernholz, der in der Kleiderkammer schwebte.
Als sie die Tür aufzog, fühlte sie sich fast wie ein kleines Mädchen, das sich hier versteckt hielt, um mit den edlen Roben ihrer Mutter auf Tuchfühlung zu gehen und die schönen Stoffe zu berühren – etwas, das früher gänzlich unmöglich war, denn Lady Emmeline hatte Violet nicht eine
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