Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bombenbrut

Bombenbrut

Titel: Bombenbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Schütz
Vom Netzwerk:
steht da, seine Liege an der Wand, daneben ein alter Schrank und ein Elektroherd sowie ein paar alte verschmutzte Töpfe darauf.
    Die verwahrloste Frau stiert ihn an und zeigt auf ihren Braten und die Wodkagläser.
    Stengele ignoriert die Einladung und fragt nach seinem Gepäck, malt einen Koffer in die Luft, doch die alte Vettel reagiert nicht.
    Er geht mutig an die Zimmertür, öffnet sie, steht unvermittelt in einem dunklen Flur, sucht tastend an der Wand entlang nach einem Lichtschalter, findet ihn schließlich, drückt darauf, eine Birne glimmt auf. Er geht zum Ende des Flurs, eine Treppe führt hinunter. Er folgt ihr, tastet sich durch das dunkle Treppenhaus, hört nicht mehr auf zu gehen, bis er im Erdgeschoss steht, sieht hinter einer Glastür die Lichter der Straße und rennt entschlossen darauf zu.
    Er ergreift die Klinke, drückt sie nieder, die Tür geht auf, er tritt auf die Straße und läuft los. Er rennt und rennt, als ginge es um sein Leben, rennt weg, so weit er kann.
    Nach mehreren Straßenzügen bleibt er stehen. Die Luft wird ihm knapp. Er reißt den Mund auf, inhaliert tief, schnauft erschöpft und will sich erst mal beruhigen.
    Ängstlich schaut er sich um, dann ist er sich gewiss, dass ihm niemand folgt. Doch wo soll er hin? Er weiß ja nicht mal, wo er ist. Eine Zwischenlandung hatte sein Flieger nicht eingeplant. Er musste in Moskau sein. Aber wo da?
    Langsam geht er weiter. Er ist allein auf der Straße. Seine Armbanduhr zeigt 2 Uhr.
    Jetzt endlich kann er pinkeln. Er muss, dringender denn je, und benutzt, wie ein streunender Hund, den nächstbesten Laternenpfahl.
    Die Scheinwerfer eines Autos nähern sich. Er kann nicht aufhören, seine Blase zu leeren, lässt es einfach weiterlaufen. Die Pisse sucht sich einen Weg über den Bürgersteig in den Rinnstein.
    Der Wagen hält direkt neben seiner Pissrinne an, er erkennt, dass es ein Polizeiwagen ist. Zwei Polizisten steigen aus und gehen auf ihn zu. Der eine schreit ihn an, doch Herbert Stengele kann nicht aufhören zu pinkeln.
    Jetzt ruft ihm auch der zweite etwas Unverständliches zu.
    Endlich ist Stengele so weit, schließt seinen Hosenstall und lächelt erleichtert. Dann zieht er sein Jackett enger um sich, denn plötzlich ist ihm kalt. Auf Englisch bittet er um Hilfe.
    Die beiden Polizisten reden in ihrer Sprache immer heftiger auf ihn ein, Stengele umgekehrt auf sie, mal in Deutsch mal in Englisch, doch die beiden Herren verstehen ihn nicht. Sie wiederholen nur monoton, aber immer lauter: »Passport!«
    Er deutet ihnen an, keinen Ausweis bei sich zu haben, auch keine Geldbörse. Er zieht das Futter aus seinen Taschen, die beiden Polizisten packen ihn hart an und verfrachten ihn auf die Rückbank ihres Wolgas.
    Auf der Wache nehmen sie sich ihn noch rüder vor, doch außer gegenseitigem Anschreien kommt nichts dabei heraus. Die Polizisten demonstrieren ihre Macht, Stengele seine Verzweiflung. Dann stecken sie ihn in eine triste, dunkle Zelle.
    Herbert Stengele ist jetzt am Ende seiner Kräfte. Er könnte heulen. Er steht an der kalten Wand seines Gefängnisses, lehnt den Kopf daran, sucht Halt und fühlt sich so verlassen wie schon lange nicht mehr.
    Er denkt an Matthias, seinen alten Freund. Vielleicht hätte besser er selbst statt seiner ermordet werden sollen? Was will er nun ohne ihn anfangen? Wenn Matthias hier wäre, der würde sie beide herausboxen, aber er allein …
    Schluchzend lässt er sich auf die Pritsche sinken und bleibt zusammengekauert sitzen. Er fühlt sich von allen bösen Geistern verfolgt. Sitzt unschuldig und von aller Welt vergessen in einem russischen Knast, er, der nie etwas Böses der Welt zugefügt hat. Er erinnert sich an Fritz Haber, einen Chemieprofessor der Universität Berlin, der Angst hatte, in ein russisches Gefängnis gesteckt zu werden, nachdem er mit Otto Hahn die ersten Giftgaseinsätze der deutschen Wehrmacht ermöglicht hatte. 5.000 tote Soldaten und 10.000 Schwerverletzte hinterließ sein Chlorgas nach einer Offensive. Doch 1918 erhielt er den Nobelpreis für Chemie. Mit diesem Gedanken nickt Stengele mit einem hoffnungsvollen Lächeln auf seinen Lippen weg.
     
    Am nächsten Morgen geht alles sehr rasch. Herbert Stengele wird von zwei uniformierten Polizisten und einem Dolmetscher abgeholt.
    »Sie werden uns einiges zu erklären haben«, verkündet der Dolmetscher auf Deutsch, »wissen Sie denn wenigstens, wie Sie heißen?«
    Herbert Stengele ist erschöpft. Apathisch beantwortet er die Fragen.

Weitere Kostenlose Bücher