Bombenbrut
Augen, will zurück in seine Träume fliehen. Dann erinnert er sich, dass man sich zwicken soll, wenn man nicht weiß, ob man träumt oder wacht. Er will sich auf keinen Fall bemerkbar machen. Deshalb nimmt er zuerst seine rechte Hand, die unter der Decke steckt, und zwickt sich in den rechten Schenkel. Danach zwickt er sich mit der linken Hand in den linken Schenkel. Verdammt, es ist real! Er kann seine Finger bewegen, wie er will, seine Glieder gehorchen den Befehlen seines Gehirns, er spürt den Schmerz, wenn er sich kneift.
Verdammt, er träumt nicht, er liegt tatsächlich bei dieser alten Frau, irgendwo in einer versifften, verkackten Wohnung. Irgendwo.
Und es ist Nacht.
Vorsichtig öffnet er erneut seine Augenlider. Die alte Frau schüttet sich aus einem Plastikkanister ihr Glas voll, trinkt es wieder gierig aus und widmet sich ihrem Brocken Fleisch. Unbeholfen säbelt sie weiter einige Stücke ab und schiebt sie hungrig mit ihren dicken Fingern in ihren Schlund. Glücklich lächelnd, wie ein Kind, malmt sie zahnlos darauf herum.
Sie trägt ein blaues Kopftuch mit roten Punkten. Es ist am Hinterkopf geknotet, wie bei heroischen Kolchose-Traktorfahrerinnen. Darunter lugen graue strähnige Haare hervor. Sie hat breite buschige Brauen über dunkelbraunen Augen und eine riesige, knollige Nase. Dazu dicke Lippen und einen großen Mund. Sie selbst ist klein, dick, gedrungen.
Herbert Stengele entdeckt auf ihrer Knollennase eine dicke Warze, wie sie einst in seinem Märchenbuch die Hexe von Hänsel und Gretel zierte. Er muss sie ansehen, er kann nicht anders. Er schaut dem alten Weib zu, wie es frisst und säuft wie ein Tier. Es ängstigt ihn.
Sie dagegen nimmt ihn nicht wahr, ist mit sich und dem Braten beschäftigt und schmatzt zufrieden vor sich hin.
Stengele will sich weiter umsehen, erkennen, wo er sich befindet, was mit ihm passiert ist, doch er stellt bald fest, viel gibt es in dem Raum nicht zu erkunden. Er hört auch keine anderen Personen, nur gedämpft die Geräusche eines laufenden Fernsehers, vermutlich aus dem Raum oder gar der Wohnung nebenan. Er ist allein mit der Alten in diesem gottverlassenen Zimmer.
Es dauert, bis er einen klaren Gedanken fassen kann, er versucht zu überlegen, zunächst fieberhaft, dann wieder ruhiger.
Er spürt, dass er noch den Anzug trägt, den er am Morgen angezogen hatte, bevor er in den Flieger stieg. Dann kam die Bloody Mary und danach sein seltsamer Traum, oder war es doch Realität gewesen?
Die Stewardess hatte ihn jedenfalls in diese Decke gehüllt. Danach muss er aus dem Flieger herausgetragen worden sein. Das war kein Traum gewesen, er hatte wohl unbewusst mitbekommen, was tatsächlich mit ihm passierte. Verdammt, die Alte muss doch wissen, wie er hierher gekommen ist?
Unvermittelt spürt er, dass er dringend pinkeln muss. Er will es unterdrücken. Ängstlich horcht er in seine Blase, der Druck aber wächst stetig, seit er ihn wahrgenommen hat.
Er muss!
Jetzt.
Mit einem Ruck reißt er die Decke von seinem Körper und springt von der Liege auf. Mit seinen zwei Metern steht er plötzlich krachend auf den Dielen des kleinen Zimmers.
Die alte Frau erschrickt und flucht: »Jebem ti boga!« Dabei stößt sie vor Schreck ihr Glas um.
Stengele geht forsch auf sie zu und brüllt sie an: »Wer bist du? Wo bin ich? Wie komme ich hierher?«
Sie beginnt zu zittern, schaut ihn aus großen Augen an, dann lächelt sie und stellt mit einer stoischen Ruhe ihr Glas wieder auf den Tisch, nimmt ein zweites Glas hinzu und schüttet beide aus ihrem Kanister mit dem wasserähnlichen Inhalt voll. Währenddessen redet sie unaufhörlich, doch Stengele versteht kein Wort.
Er schaut sie nur fassungslos an.
Sie streckt ihm das zweite Glas hin und prostet ihm zu: »Vashe zdorovie!«
Stengele riecht an dem Glas, erkennt den Geruch von Wodka und glaubt endgültig zu wissen, dass er in Russland ist.
Verdammte Scheiße, wie ist er hierhergekommen?
Er redet auf die alte Frau ein, stellt Unmengen von Fragen, aber sie antwortet nur in ihrer eigenen Sprache, die Stengele als Russisch zu identifizieren meint. Immer wieder »Da, da, da« – Ja, Ja, ja, denkt Stengele, du mich auch.
Er geht an das einzige Fenster des Raumes, schaut hinaus, sieht eine Straßenschlucht, Wohnblocks und hinter fast jedem Fenster ein Licht. Das beruhigt ihn zunächst, bevor wieder neue Unruhe in ihm aufkeimt.
Er blickt sich in dem schäbigen Zimmer um. Es ist keine zehn Quadratmeter groß, nur der Tisch
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