Bombenbrut
Minuten und will weitermähen, doch Helma hält ihn fest und schreit weiter gegen den Motorlärm des Rasenmähers an: »Ich habe noch ein paar Äste am Zaun geschnitten, die musst du mir bitte auch noch zur Deponie fahren.«
»Äste?«, brüllt Leon ungläubig und denkt mit Schrecken daran, wie seine Karre bis vor Kurzem noch aussah.
»Ja, Äste! Was ist daran so ungewöhnlich? Die wachsen nun mal im Sommer«, antwortet Helma verständnislos.
Leon nickt und gibt Vollgas. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie die alte Frau mit einer Baumschere durch ihren Garten streift, und hier und da ein Ästchen schneidet, als wäre sie die Meisterfriseurin des grünen Fassonschnitts. Jeden geschnittenen Ast trägt sie mit Bedacht auf einen Haufen, ab und an landet auch mal eine verblühte Rose darauf, die Helma ebenfalls nebenbei abschneidet. Mühevoll bindet sie die Gartenabfälle mit einer Schnur zu einem weiteren Bündelchen zusammen.
Leon bleibt mit laufendem Rasenmäher stehen, schaut ihr zu, wie sie die Schere zum Schnitt angestrengt mit beiden Händen zusammendrückt. Dabei beißt sie sich immer wieder auf ihre Zunge, stöhnt auf, ihre schlohweißen Haare fallen ihr ins Gesicht, trotzdem scheint sie glücklich und mit sich und der Welt im Reinen.
Morgen wird Helma wieder über ihre Gicht in den Händen und ihre Schmerzen im Rücken jammern, ahnt Leon, aber heute zeigt sie ihm, mit welcher Liebe und Leidenschaft sie ihren Garten pflegt. Seit über 70 Jahren lebt sie hier. In den 20er-Jahren haben sie und ihr Mann das Haus im einfachsten Bauhausstil errichtet. Heute ist es für Bauromantiker ein kleines Juwel. Für Leon das schönste Zuhause: Quadratisch, praktisch, zeitlos schön! Selbst die lästigen Sträucher gehören für ihn mit dazu, nur er würde sie hemmungslos verwildern lassen.
Die alte Villa steht heute noch, wie vor 80 Jahren, dank der eselsartigen Sturheit Helmas. Denn seit Jahren tauchen regelmäßig Immobilienhaie mit Koffern voller Bargeld bei ihr auf. Überlingen, das Nizza am Bodensee, wie Touristiker gerne texten, mit der längsten Promenade am See, ist bei vielen Spekulanten begehrt. Nachdem die Immobilienblase in den Vereinigen Staaten geplatzt ist, schwemmt es selbst Dollars aus Übersee in das kleine romantische Städtchen. Doch Helma widersteht konsequent jedem Angebot. Sie ahnt, die Haie interessiert nicht ihr schönes Haus, sondern nur ihr Grundstück: Nahe am Wasser gelegen, See-, Alpen-oder Panoramablick – das sind die wahren Börsenwerte für Grundstücke rund um den Bodensee. Ihr schönes Haus und den gepflegten Garten würden sie abreißen und umstülpen.
Leon hat einmal mitbekommen, wie sie einen Immobilienmakler von ihrem Grundstück wies. Sie schlug ihm die Gartentür vor der Nase zu. Das hat Leon mächtig imponiert. Dabei hatte der Mann ihr tatsächlich einen Koffer voller Bargeld unter die Augen gehalten. Seither hat die alte Dame bei ihm jeden Wunsch frei, er wird ihr keine Bitte mehr abschlagen.
Gerade hat er sich geschworen, in seinem frisch geputzten Porsche kein weiteres Grünzeug mehr zu transportieren. Aber während er sie beobachtet, wie sie so resolut durch ihren Garten marschiert, weiß er, dass er ihr nach seiner Arbeit sofort helfen wird, ihre Gartenabfälle in seiner Karre zu verstauen.
Verträumt tätschelt er Senta liebevoll die fetten Rippen und wünscht, nicht ganz ohne Eigennutz, der alten Frau ein recht langes Leben.
Als hätte Helma seine Gedanken erraten, ruft sie ihm zu: »Ist das Leben nicht wunderschön? Du könntest dich jeden Abend hier im Garten nützlich machen. Was hätten wir für leckeres Gemüse und Kartoffeln!«
»Ja, ich weiß. Die dümmsten Bauern …« Den Rest der allgemein bekannten Redensart schenkt er sich. Er schaut auf die Uhr: 50 Minuten! Dabei muss das Gras noch zusammengerecht, auf den Kompost gelagert und dann noch die Äste im Auto verstaut werden.
Danach ist er völlig verschwitzt. Jetzt kann er seinem Trainingsprogramm auch noch eine Schippe drauflegen, denkt er und zieht seine Laufschuhe an. Er joggt durch die Weinberge des Felsengartens bis hinter Hödingen und, als es schon dunkel wird, zum Ufer des Sees, neben der Therme. Total ausgepumpt springt er in seinem Laufdress in den See und geht anschließend nach Hause unter die Dusche.
Feierabend! Leon öffnet ein Weizenbier, schaut sich die Tagesschau an und legt relaxt seine Beine auf den Tisch. Das erste Glas leert er in fast einem Zug. Dann muss er rülpsen, trinkt trotzdem
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