Bombenspiel
9.30 Uhr. Sie fuhr im Bett hoch. So spät schon? Normalerweise war sie um diese Zeit bereits eine Stunde in der Redaktion, aber sie hatte gestern Nacht offensichtlich vergessen, den Wecker zu stellen. Ihre Gedanken rotierten.
Gestern Nacht …
Die Abendluft hatte nach Raps gerochen, als sie mit ihrem Citroën vom Dienst nach Hause gefahren war, die sattgelben Felder hatten in der Abendsonne zwischen den grünen Wiesenmatten geglänzt. Es hatte sie an einen der Sonnenuntergänge am Uaso Nyiro erinnert, wie sie sie mit Alan Scott erlebt hatte.
Kein Tag war vergangen, ohne dass sie an ihn gedacht hatte. Nur eine SMS hatte sie ihm geschickt, nachdem er nach Südafrika abgereist war. Wir sollten uns Zeit lassen , war darin zu lesen, vielleicht tut es uns gut, eine Pause einzulegen. Mehr nicht. Danach hatte sie nächtelang schlecht geschlafen, ja sogar mit dem Gedanken gespielt, nach Johannesburg zu fliegen.
Von Tag zu Tag war ihr mehr bewusst geworden, wie sehr sie ihn liebte. Und doch konnte sie sich nicht überwinden, den ersten Schritt zu tun. Obwohl sie seine Handynachrichten inzwischen gelesen hatte, saß der Stachel tief und sie war noch nicht zu einer Aussöhnung bereit. Die Hochzeit hatte sie abgesagt. Alan sollte sich nicht gezwungen fühlen, ihretwegen früher aus Südafrika zurückkehren zu müssen.
Es war rasch Nacht geworden.
Dort, wo sie sich um Mitternacht mit Henning Fries getroffen hatte, war alles diffus, wie im Nebel, und dennoch seltsam leuchtend durch künstliches grellgelbes Straßenlicht, dunkel und doch nicht Nacht. Kein Mond, der den Himmel erhellte, trotzdem schien eine milchige Lichtglocke über ihr zu sein. Dunstige Großstadtnacht.
Sie erinnerte sich an jedes Detail.
Eine klare Nacht wäre nicht so warm gewesen. Saharawind, warme Luft aus Nordafrika, hatte sie im Wetterbericht gelesen, eine Sommernacht Anfang Juni. Von den Wiesenhängen an der Nordflanke der Wurmlinger Kapelle drang in solchen Nächten das singende Zirpen der Grillenschar an ihre Ohren, gemischt mit dem weichen Trillern der seltenen Wechselkröten, die irgendwo in einem der kleinen Teiche bei den Vogelschutzgehölzen ihr Laichgewässer hatten.
Sie war nach Stuttgart gefahren, Bad Cannstatt.
Sie parkte ihren Wagen auf einem der zahlreichen freien Parkplätze entlang der Mercedesstraße, ein paar Meter unterhalb des Carl-Benz-Centers. Von hier aus waren es nur wenige Meter zur Arena, deren große weiße Leuchtbuchstaben am schwarzen Himmel zu kleben schienen.
Kein Stern war zu sehen. Großstadtnächte kannten nicht den Unterschied zwischen wolkenverhangen und sternenklar. Sterne hatten hier keine Chance gegen Straßenbeleuchtung und Neonröhren, die aus dem Parkhaus bis auf den Asphalt strahlten. Sie dachte an den Sternenhimmel Afrikas. Und sie dachte an ihre Mutter. In lauen Nächten wie dieser war sie ihr näher als je zuvor. Seit ihre Mutter tot war, sprach sie nachts manchmal mit den Sternen, weil sie glaubte, dass ihre Mutter sie so hören konnte. ›Ein Stern, der deinen Namen trägt‹, dieses Lied fiel ihr dann ein und sie fragte sich manchmal, ob das Firmament ausreichte, um für jeden Toten einen Stern leuchten zu lassen. Ein schöner Gedanke …
Sie näherte sich dem Tor 3 der Mercedes-Benz-Arena, ahnte die Silhouette der Stadionaußenwand, die irgendwo über ihr mit dem Abendhimmel verschmolz. Plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Hatte sie Schritte gehört? Folgte ihr der Mann, der sie für Mitternacht hierher bestellt hatte, oder wartete er da vorne auf sie?
Die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr zeigten 23.44 Uhr. Sie hatte noch Zeit. Die Einsamkeit in dieser seltsamen Umgebung bedrückte sie. Kein Mensch war unterwegs, nicht ein einziges Auto fuhr kurz vor Mitternacht an der Arena vorbei. Die Stadionwand wirkte düster und tot wie ein Felsendom. Selbst die Platanen schienen erstarrt, kein Windhauch bewegte das junge Grün ihrer Blätter.
Und wieder – vernahm sie nicht leise Schritte?
23.51 Uhr.
Noch neun Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Hennings SMS und seine Worte bei ihrem kurzen Telefonat gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Worauf sie sich eingelassen hatte, ahnte sie nicht. Aber sie hatte seinen Wunsch befolgt und war allein gekommen. Vor Henning hatte sie ohnehin keine Angst. Sie kannten sich zu gut, von ihrer gemeinsamen Zeit an der Uni, von den zwei Jahren, die sie zusammen gewesen waren. Und sie kannte Karin, Hennings Freundin.
Gut, die beiden hatten eine Krise hinter sich, aber
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