Bonbontag
Vögel.
»Hallo«, sagte sie munter.
Die Kinderschar sah sie stumm an.
»Einige von euch gehen doch in die Schule da drüben, oder? In die auch meine Tochter geht. Mirja heißt sie, wohnt im Eingang A.«
Die Kinder musterten sie von unten, gaben sich gegenseitig Zeichen, Unterstützung suchend.
»Ich muss euch um einen großen Gefallen bitten«, sagte sie.
Sie merkte, wie ihre Augen feucht wurden. Alles verschwamm, alles blieb klar. Die Kinder hörten zu, ihre Worte erreichten jedes einzelne Kind. Es war ein Genuss, diese Stimme zu hören.
Meine Tochter Mirja ist krank und allein, sagte die Stimme. Ich habe versucht, jemanden zu finden, der sich um sie kümmert, aber niemanden gefunden. Seht ihr den Jungen, der dort steht und glotzt?
Er glotzt, weil er weiß, dass ich zur Arbeit muss. Er weiß, dass ich meine kranke Tochter alleine lassen muss.
Vorgestern lief er Mirja hinterher und warf mit Steinen nach ihr. Mirja blieb stehen und fragte ihn, warum er mit Steinen nach ihr werfe, wo sie ihm doch nichts getan habe. Zum Spaß, sagte der Junge. Zum Spaß und weil du hässlich bist und stinkst, sagte er. Dann stieß er Mirja zu Boden, trat sie und stieg auf sie drauf. Bespuckte sie. Riss ihr den Rock herunter. Stellt euch vor, so ein kleiner Junge! Erst da konnte Mirja davonlaufen. Sie hat fürchterliche Angst vor ihm. Sie sagte, versprich mir, Mama, dass der böse Junge nicht kommt, wenn du nicht da bist. Ich verspreche es dir, sagte ich. Und da drüben steht er nun. Zu allem bereit.
Paulas Kopfschütteln strahlte Verzweiflung aus.
»Was hat denn seine Mutter gesagt?«, fragte ein Mädchen mit eckiger Brille. »Was hat seine Mutter gesagt, als sie das gehört hat?«
Paula war irritiert. Gehörte die Mutter mit ins Bild? Die Mutter wäre gefährlich, sie würde alles durcheinanderbringen.
»Seine Mutter wohnt nicht hier«, sagte der kleinste Junge in der Gruppe. »Der hat bloß eine Oma ...«
»Der wohnt hier auch nicht richtig ...«, pflichteten andere aus der Gruppe bei. »Der gammelt hier bloß rum.«
»Seine Oma hat so ein Kopftuch«, sagte ein Lockenkopf. »Meine Mama nennt das Russenkopftuch.«
»Was?«
»Ist der Russe oder was?«, fragte der kräftigste Junge.
»Ich hab gesehen, wie sie mit dem Krankenwagen abtransportiert worden ist«, sagte ein dünner Bursche.
»Und was macht der da jetzt?«, fragte das Mädchen, das am ältesten aussah.
Paula seufzte, jammerte fast.
»Darf ich euch um was bitten?«, sagte sie. »Darf ich euch um einen Gefallen bitten?«
Andächtige Stille.
»Wärt ihr, Kinder, so lieb ... Kinder seid ihr ja eigentlich gar keine mehr ... Also, könntet ihr jungen Leute ein bisschen die Augen offen halten? Wenigstens ein bisschen gucken, dass der Junge, ob er jetzt Russe ist oder sonst was ... dass er meine Mirja nicht erschreckt und ärgert. Dass er nicht die Treppe hochgeht und meine kleine Tochter malträtiert.«
Eine Träne rann ihr aus dem Auge.
Sie hörte gerührtes Schlucken in der Kinderschar, sah die Augen hinter einer eckigen Mädchenbrille feucht werden. Registrierte einvernehmliches Rascheln im Schwarm.
»Wir sorgen dafür, dass hier immer jemand ... auf dem Posten ist.«
»Wenn er versucht, näher zu kommen, gibt’s eins auf die Fresse.«
»Da lernt er mal, wie das ist, der Arsch.«
»Der elende Scheißkerl ... bei so einem gibt’s keine Gna-de ...«
Kinder sind etwas Wunderbares, dachte Paula. In den Kindern liegt die Zukunft.
Sie wischte sich die kalte Tränenspur von der Wange.
Die Augen waren getrübt, aber der Sinn war klar.
So ist das. Man ist vollkommen aufrichtig, spricht aus der Tiefe seines Herzens und lügt trotzdem. Lügt, damit die Wahrheit zum Vorschein kommt. Damit die Ordnung wieder hergestellt ist. Damit die Schönheit vor der Vernichtung verschont bleibt.
8
NEU-MELDUNG EINER KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
NAME DES KINDES: Mira Unbekannt
PERSONENKENNZIFFER: 123456-0000
Anmerkung: Eintrag unvollständig; fiktive Angaben nur für den vorläufigen Gebrauch in der Eingabemaske. Übertrag ins Klientenregister erfordert vollständige Angaben.
MELDENDE PERSON: Dock Killmoh?
GEGENSTAND DER MELDUNG:
Der Anrufer teilt mit, im Nachbarhaus sei ein kleines Mädchen »schon lange« in einem Zimmer eingesperrt. Er vermutet, dass »es ihr da bestimmt irgendwie schlechtgeht«. Er konnte nicht mehr als den Vornamen des Mädchens nennen (Mira oder Mirabella) und die ungefähre Adresse. Mit diesen Informationen lässt sich keine sinnvolle
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