Bonbontag
hatte den Jungen malträtiert. Warum? Aber dafür brauchte es wahrscheinlich keinen Grund. Jedenfalls hatte sich der Junge deshalb nicht getraut, in die Wohnung zu gehen. Die freilich nicht sein Zuhause war.
»Okay ... und du solltest nicht zu Hause bei deiner Mutter sein ... sondern du solltest zu deinem Vater gehen oder vielmehr zu deiner Großmutter.«
»Genau.«
»Und dein Vater wiederum ...«
»Papa hat zu tun«, sagte Tomi und nahm die Hand vor den Mund, mimte unbeholfen ein Gähnen. »Aber könnten wir vielleicht schlafen gehen?«
»Dein Vater ... was macht dein Vater eigentlich ... so beruflich?«
»Alles Mögliche«, antwortete Tomi. »Der macht alles Mögliche.«
Ari wartete, ob der Satz noch vervollständigt wurde.
»Aber du weißt nicht, wo er jetzt ist?«
»Na ja, nicht so genau, aber irgendwie so ungefähr ...«
»Nämlich?«
»Na ja, er wohnt praktisch nicht bloß an einem Ort ...«
Ari musste verdauen, was er gehört hatte.
»Kann ich jetzt schlafen gehen?«
»Eins noch«, fiel Ari ein. »Warum willst du nicht, dass ich da anrufe ... bei dem Notdienst. Also die ...«
»Sozialtanten?«, fragte Tomi.
»Genau.«
»Die Sozialmiezen«, sagte Tomi, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Mein Papa nennt sie immer die Sozialmiezen ... Weil er findet, dass eine von denen ... «
»Sind die nicht ... helfen die einem nicht?«
Tomi seufzte, sagte eine Weile nichts.
»Die ... kapieren irgendwie nichts. Die bringen alles durcheinander.«
»Die können nichts kapieren, wenn ihnen niemand etwas erzählt.«
»Nein, die ... Oma hat sie angerufen. Da ist dann auch eine von den Tanten hin ... Aber das ist schon länger her.«
»Wo hin? Entschuldige, aber ich ...«
»Ich hab auch angerufen. Heute.«
»Du hast angerufen?«
»Bei den Sozialmiezen.«
»Du hast beim Sozialamt angerufen? Ganz alleine?«
Tomi nickte, sagte aber nichts, obwohl er so aussah, als hätte er noch einiges zu sagen.
»Warum hast du dort angerufen?«
»Wegen Mirabella.«
Ari sah Tomi forschend an. War das die Fantasiewelt von Doktor Kilmore?
»Wer ist diese Mirabella denn?«
»Das ist so eine ... Prinzessin.«
Tomi wurde schlagartig rot.
Das Mädchen war real. In irgendeiner Form war es real. Erst jetzt begriff Ari das. Und es war dem Jungen alles andere als gleichgültig.
»Mirabella ... schöner Name«, tastete sich Ari weiter vor.
»Die alte scheiß Kobrahexe hält sie gefangen.«
»Hält sie gefangen?«
»Ja ... lässt sie nicht raus. Darum hab ich die Sozialen angerufen.«
Die Kobrahexe? Wahr oder erfunden?
»Und was haben die Sozialen gesagt?«
»Die haben bloß in den Computer geguckt und gesagt, falscher Name.«
»Also der Name Mirabella?«
»Ich bin hin und hab geguckt, was für ein Name an der Tür steht. Hat den Sozialen aber nicht gepasst.«
»Und wer ist diese alte Hexe?«
»Na, Mirabellas Mama.«
Ari nickte verständnisvoll. Zurück in die Wirklichkeit. Ein Mädchen, das ihm gefällt, in der Nachbarschaft, die Mutter auf Achse. Das Mädchen unter Arrest. So sind die Mütter, Väter auch.
»Die hat die Mirabella auch schon geschlagen.«
»Hat dir Mirabella das erzählt?«
»Nein, weil ... sie sagt, sie ist hingefallen.«
Ari sammelte seine Gedanken.
»Ich verstehe das immer noch nicht. Warum darf ich nicht die Sozialen anrufen?«
Tomi schaute Ari erneut wie einen Schwachsinnigen an.
»Die würden mich mitnehmen.«
»Genau ... die würden dich nach Hause bringen.«
»Und wie könnte ich dann zu Mirabella gehen?«
Wie es aussah, war Mirabella die große Liebe seines Lebens.
»Und außerdem war das ja sozusagen unser Geheimnis ...«
»Was jetzt?«
»Dass ich bei Oma war.«
»Wessen Geheimnis?«
»Das von mir und meinem Papa ... Wenn meine Mama das erfährt, dann ...«
Weiter ging die Geschichte nicht. In was für Konstruktionen so ein kleiner Junge leben muss, dachte Ari. Er spürte, wie seine Gedanken allmählich auseinanderfielen.
»Okay ... Vielleicht sollten wir jetzt besser ...«
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Tomi.
»Wozu?«
»Könntest du mit mir hingehen?«
»Wohin?«
»Zu Mirabella.«
Ari sah den Jungen an. Für Tomi war das kein Spiel. Der Junge wollte seine Prinzessin sehen. Ari tilgte sämtliche Hexen und Kerker in der Geschichte.
Tomi starrte ihn hartnäckig an, er wartete auf eine Antwort, obwohl er vollkommen erschöpft aussah. Auch Ari warmüde. Bis zu seinem Termin waren es nicht mehr viele Stunden. Und vorher musste er diesen Jungen
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