Bonbontag
sagte Tomi.
Ari massierte sie. Massierte die steifen Beine eines fremden Jungen. Durch die schmuddeligen Strümpfe hindurch. Die Beine eines kleinen Menschen.
Rieb den Rücken, rieb die Arme. Vorsichtig, um die blauen Flecken herum. Massierte den Kopf.
Streichelte den Kopf des Jungen. Ganz vorsichtig.
Dabei schlief Tomi ein.
19
Sie spürte eine Hand auf der Schulter. Etwas Raues lag unter der Wange. Papier?
Jemand schüttelte sie. Wer ... wo war sie?
»Mira ... Mirja?«
Ein Gefühl, als würde man am Hals gepackt, Mirja ...
Nein, es war die Hand eines Erwachsenen, die Hand eines Mannes.
Paula drehte den Kopf, noch ganz verschreckt, richtete sich auf, blinzelte.
Ein Sessel, ein schäbiger Sessel. Die Beine hingen über die Armlehne. Und der Mann, der vor ihr stand, starrte sie an, sah besorgt aus. Sah aus, als wollte er sie um Entschuldigung bitten. Sah ziemlich nett aus.
Ein freundliches Gesicht. Erkki Saari, Filialleiter.
»Vielleicht sollten Sie auch nach Hause gehen?«, meinte er.
Wie hatte sie hier einfach einschlafen können? Stück für Stück kehrte der Vorabend in ihr Gedächtnis zurück. Die anderen waren bereits gegangen. Paula hatte vorgeschlagen, noch zu bleiben, um den Papierkram komplett vor Ort zu erledigen, damit sie deswegen nicht mehr ins Büro musste. Nach langem Zögern hatte Saari eingewilligt.
Sie hatte versprochen, die Tür abzusperren und die Alarmanlage einzuschalten. Aber dann ... Der Sessel war voller Bonbonpapierchen. Sie hatte sich eines geholt ... dann ein zweites ... und ein drittes. Hatte gedacht ... sie ruht sich nur ein bisschen aus.
Plötzlich fing sie an zu weinen. Sie kämpfte dagegen an, aber sie war machtlos. Weil sie gerade erst aufgewacht war, da konnte man nichts machen. Da kommt für einen Augenblick das Grauen.
»Was ... nein ... ich müsste ...«, jammerte sie.
Dann schluckte das Weinen alles, es beruhigte.
Sie lehnte den Kopf an Saaris Schulter.
Saari tätschelte sie. Sehr, sehr unbeholfen. Das war irgendwie rührend, als würde man von einem Kind getätschelt.
»Was ist denn ... was ist denn ...«, redete er ihr verdutzt zu.
Dann erstarrte das, was in ihr strömte, wurde zäh.
So, meine kleine Paula, sagte sie zu sich selbst. Jetzt beruhigst du dich ... Mirja wird es schon verstehen. Wenn sie groß ist. Und wird für alles dankbar sein.
»Belastet Sie die Arbeit?«, fragte eine Stimme.
Paula hob den Kopf, sah Saaris Gesicht in unmittelbarer Nähe. Verwirrung, beinahe Schrecken. Und mittendrin Wärme.
»Der Druck ist bestimmt groß, das kann man sich leicht vorstellen«, stammelte Saari.
»Nein, das ist es nicht ...«, sagte Paula, zögerte, merkte, dass sie Saari gewissermaßen nachahmte, sich seiner Unsicherheit anpasste. »Es ist nur alles so durcheinander.«
Sie lehnte noch für einen Moment den Kopf an seine Schulter, das Ohr drückte auf eine weiche Stelle.
Sie sagte, sie halte Durcheinander nicht aus. Sie wolle einfach nur, dass Ordnung in ihrem Leben herrsche. Ganz normale Ordnung. Weil nur das wirklich schön sei.
Saari erbebte, es war ein ganz kleines Zittern, Paula spürte es, weil sie so nah war, dass sie den Herzschlag hörte. Die Resonanz seines Sprechens drang ihr eigentümlich unter die Haut. Die Worte aber gingen an ihr vorbei.
»Könnten Sie das wiederholen?«, bat Paula.
»Viele vergessen sie«, sagte Saaris Stimme.
»Was?«
»Die Schönheit ... Ich habe gestern Morgen im Radio einen großartigen Satz gehört. Da hieß es, Schönheit als Schönheit zu erkennen setze ein gewisses Maß an Abstand voraus.«
Paula hob den Kopf. Bewegte ihn etwas von Saari weg, sah ihn an.
»Genau so ist es«, sagte sie.
»Ja? Denken Sie?«, stotterte Saari. Er wirkte überrascht.
»Ich denke genauso«, sagte Paula. »Wenn man aus zu geringer Entfernung hinschaut, gerät alles unscharf, durcheinander. Weil die Schönheit ist, was sie ist. Nämlich ...«
Saari nickte unsicher.
»Schönheit ist nämlich Ordnung plus Logik. Und es gibt keine Ordnung ohne Abstand«, fuhr Paula fort. »Mit Kindern ist es übrigens ebenso.«
Saari nickte nicht mehr. Er sah Paula nur unsicher und neugierig an.
»Was ist Ihrer Meinung nach denn schön?«, fragte er.
Paula überlegte.
»In der Beziehung hat es schon viele Irrtümer gegeben ...« Paula richtete den Blick auf Saari. »Vieles, was schön aussieht ... ist in Wahrheit gar nicht schön.«
»Das kann man natürlich ...«
»Wenn man die Augen aufmacht, wenn man ein bisschen Abstand nimmt, sieht
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