Bonbontag
gemacht wird. Ob mehr auf Mädchen oder Jungs.
Ich dachte, diese Entscheidung ist für mich gefallen.
Aber gerade eben ... Mit Paula ...
Als ich sie da liegen sah, schlafend ... Zuerst dachte ich, mein erster Gedanke war: raus. Raus aus meinem Büro, aus meinem Laden, aus meinem Leben. Raus aus meinem Traum.
Ich wollte sie schon wachrütteln, entschlossen, aber ohne meinen Zorn zu zeigen. Ich wollte sie schon schütteln, tat es aber dann doch nicht. Nicht sofort.
Ich sah sie an. Das Gesicht, schutzlos durch die geschlossenen Lider. Das Gesicht eines Kindes. Im ruhigen Schlaf. Etwas sehr ... Anmutiges lag darin. Alle Härte war verschwunden.
Ein schönes Gesicht. Die Lippen ... Lippen, die in Büchern als voll bezeichnet werden.
Schönheit. Schönheit als Schönheit zu erkennen setzt ein gewisses Maß an Abstand voraus. Der Schlaf entblößt das Gesicht. Und verhüllt es. Verhüllt den Menschen, den Tagmenschen.
Hätte Hitler da gelegen und geschlafen, oder Stalin, oder sonst ein Ungeheuer, hätte der Schlaf auch sein Gesicht weichgemacht, womöglich hätte ich dann auch ihn zärtlich betrachtet.
Das führte ich mir vor Augen.
Dann ergriff ich ihre Schulter und schüttelte sie, sehr nüchtern, nicht fest, nicht sanft, sondern so wie man einen eingeschlafenen Tyrannen oder eine eingeschlafene Kollegin schüttelt, um sie zu wecken.
Ich hatte erwartet, dass sie sofort da wäre. Paula Vaara. Zornig, gnadenlos, überheblich. Dass aus dem Mund, überdie Lippen gleich etwas Scharfes, Schlaues käme. Etwas Gemeines.
Aber bevor ich mich versah ... Eine warme, beinahe heiße Wange, feucht von Tränen.
Sie war so warm, die Wange.
Ich spürte es so ... stark.
Die von den Tränen erwärmte Wange.
Schönheit als Schönheit zu erkennen setzt ein gewisses Maß an Abstand voraus. Das Erkennen des Schrecklichen ebenfalls, wie sie, ihrem Stil getreu, meinte.
Ich muss gestehen, dass mich das traurig macht. Dieser notwendige Abstand. Das kleine Mädchen ...
Ich fragte nach dem Mädchen und sie antwortete. Log mich an. Etwas stimmte nicht, auch wenn ich nicht weiß, was.
Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, und sie begriff, dass ich es ahnte.
Die warme, feuchte Wange. Eine Art Freude hatte uns verbunden. Traurigkeit und Freude.
Ich wollte. Ich hatte Angst.
Du weißt das alles. Aber ich muss es erzählen dürfen, mir selbst erzählen.
Es wäre allerdings ganz schön einsam, wenn niemand sonst zuhören würde.
Danke.
Irgendwo ist das kleine Mädchen. Ich komme von ihm nicht los.
Es ist nicht alles, wie es sein soll. Es ist weit davon entfernt.
Lieber Gott, beschütze dieses kleine Mädchen.
Und habe Erbarmen. Habe Erbarmen mit uns anderen.
21
Paula fuhr in die Firma. Schwenkte die Keycard. Ging über dunkle Flure zu ihrem Arbeitsplatz.
Sie nahm zwei Tafeln Schokolade und die Zahnbürste aus der Schublade. Aß die erste Tafel. Fing mit der zweiten an. Ging sich die Zähne putzen, sorgfältig.
Setzte sich wieder an den Schreibtisch, schaltete den Computer an. Legte die Unterarme auf den Tisch. Legte den Kopf auf die Unterarme.
Ich mache kurz die Augen zu, dann sehe ich klarer, dachte Paula.
Dann schlief sie ein.
5 Vom Morgen bis zum Nachmittag
1
NEU-MELDUNG EINER KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
NAME DES KINDES: ?
SOZIALVERSICHERUNGSNUMMER: ?
MELDENDE PERSON: Laila Fredriksson
GEGENSTAND DER MELDUNG:
Die meldende Person hatte zunächst Kontakt mit der örtlichen Kirchengemeinde aufgenommen. Dort hat man ihr geraten, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen.
Laut der meldenden Person hatte der über ihr wohnende männliche Nachbar am Abend einen kleinen, unter zehn Jahre alten Jungen, der nicht sein Sohn war, mit in seine Wohnung genommen. Der Mann hat Familie, aber seine Frau und sein Kind sind derzeit nicht zu Hause. Der meldenden Person zufolge war auch früher schon außergewöhnlich lautes Schreien und Kinderweinen aus der Wohnung zu hören gewesen. Das Kind der Familie macht einen verschlossenen Eindruck.
Die anzeigende Person war durch Lärm in der Nacht aufgewacht. Als sie durch den Türspion ins Treppenhaus schaute, sah sie dort zwei Personen kämpfen. Sie öffnete daraufhin die Wohnungstür einen Spaltbreit und konnte sehen, wie ihr Nachbar einen nackten Jungen die Treppe hinaufzerrte. Als die meldende Person den Mann wegen seines Verhaltens zur Rede stellte, reagierte er nicht, sondern verschwand mit dem Jungen in seiner Wohnung. Nachdem die Tür geschlossen war, hörte man
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