Bone 01 - Die Kuppel
wie jemand solche lebenswichtigen Kenntnisse verlieren konnte. Sie erwiderte seinen Blick und sah völlig erschöpft aus, wahrscheinlich genauso wie er. Sie rasteten um Mittag, als sie sich sicher vor einem Angriff fühlten. Steingesicht war ein Stück vorausgegangen, um nach Anzeichen für Feinde zu suchen. Er schien sich gut vom Schlag auf den Kopf erholt zu haben, aber auch er würde schon bald mehr Nahrung brauchen. An diesem Morgen hatten sie die letzten Maden gegessen. Falls ihre Feinde sie nicht doch noch einholten, konnte die Gruppe von nun an nur schwächer werden.
»Gibt es noch etwas über die Wühler, an das du dich erinnerst?«
Indrani schüttelte den Kopf.
»Bist du dir sicher, Indrani? Zum Beispiel, woher sie wissen, dass wir dich aus ihrer Gewalt befreit haben. Wie sie uns jedes Mal wiederfinden, wenn die Nacht anbricht. Und welchen Trick Quetschfaust benutzt hat, um sich durch ihre Felder zu bewegen.«
Sie seufzte und schüttelte erneut den Kopf. »Stolperzunge, kannst du dich an die ersten Worte erinnern, die du zu deiner Mutter gesagt hast?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bezweifle, dass ich damals überhaupt schon verständlich sprechen konnte. Ich weiß es nicht. Warum ist das wichtig?«
»Auch ich erinnere mich nicht an meine ersten Worte. Nicht hier auf der Oberfläche dieser Welt. Aber meine Leute verlassen sich auf das Dach, dass es sich für sie erinnert. Es weiß alles. Man muss es nur fragen.« Während sie redete, tasteten ihre Finger über die Wunden an ihren Beinen, um zu kratzen und Schorf abzulösen. »Das Große Dach ist mehr als nur ein Ort, Stolperzunge. Es ist auch Wissen. Alles Wissen, das die Menschen jemals gesammelt haben. Es verwahrt unsere Erinnerungen, damit wir niemals etwas vergessen müssen. Aber so lässt sich manchmal nur schwer sagen, welche Gedanken aus unserem eigenen Kopf kommen und welche aus dem Speicher.« Jetzt hatte sie sich die Beine blutig gekratzt. Er zog ihre Hände weg und hielt sie in seinen. Ruckartig riss sie sich aus seinem Griff los und wäre beinahe ein Stück vor ihm zurückgewichen.
»Es tut mir leid«, sagte sie, als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Nein, mir tut es leid. Ich muss mich für das entschuldigen, was meine Leute dir angetan haben. Mein Bruder… ich hätte niemals gedacht …«
»Ach, Stolperzunge, ich weiß! Du hast mich vor ihm gerettet. Ich weiß, dass du mir niemals wehtun würdest.«
»Ich werde auch nicht zulassen, dass die Wühler dich bekommen«, sagte er. »Die Vorfahren sollen unsere Zeugen sein. Ich verspreche, dass ich für uns einen Ort finden werde, wo wir in Sicherheit leben können.«
Sie sah ihn lächelnd an, und die Erschöpfung verschwand von ihrem Gesicht. Er wagte es, ihre Wange zu berühren, während sein Herz so wild wie bei einem Kampf pochte. Diesmal zog sich Indrani nicht vor ihm zurück, aber sie sagte: »Steingesicht gibt uns ein Zeichen, Stolperzunge. Ich werde versuchen, wieder aus eigener Kraft zu gehen.«
Er nickte und ließ die Hand sinken. Sie fühlte sich wärmer an als sein restlicher Körper, als würde sie kribbeln.
Trotz seines Versprechens rechnete der junge Jäger eigentlich nicht damit, dass sie noch allzu lange am Leben blieben, und er überlegte, wie er ihre Verfolger in einen Hinterhalt locken könnte, solange Steingesicht und er noch nicht völlig geschwächt waren. Doch die Vorfahren hatten Mitleid mit der kleinen Menschengruppe. Neben dem Feuchtpfad stieg der Boden allmählich an, und die Bäume wuchsen kümmerlicher, wie dürre Hände, die sich in den Abhang krallten. Bald hatten sie den Wald ganz hinter sich gelassen. Der Boden wurde klumpiger, und braunes Moos ersetzte die farbenfroheren Arten, die sie zuvor gesehen hatten. Stolperzunge stöhnte, als er sah, wie der Hügel vor ihnen immer höher anstieg. Das Vorankommen wurde immer schwieriger. Aber Indrani überraschte ihn, indem sie ihm zulächelte.
»Hier muss der Untergrund felsig sein«, sagte sie. »Hierher können sie uns nicht folgen! Den Göttern sei gedankt! Wir sind ihnen entkommen! Wir haben sie geschlagen!« Jetzt zitterte sie vor Erschöpfung, und jeder Schritt hinterließ schmerzhafte Spuren in ihrem Gesicht. Den anderen ging es kaum besser. Selbst Steingesicht hatte aufgehört, ständig zu plappern. Auch er wirkte abgemagert und gebeugt. Doch Indrani ging es gut. Als die Nacht anbrach, liefen sie an etwas entlang, das Indrani als Grat bezeichnete, als Bergkamm , der sich wie
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