Bone 01 - Die Kuppel
konnte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel dem großen Mann in die Arme. Arme, die doppelt so kräftig wie seine waren und ihn an sich drückten.
»Mutter«, keuchte Quetschfaust. Andere Wesen in der Nähe nahmen den Ruf auf. Stolperzunge konnte kaum noch atmen, und die Moosklumpen in seiner Nase machten es umso schwieriger. Er wehrte sich, drückte und zog am unbeweglichen Arm, der ihn festhielt. Sein Sichtfeld wurde bereits an den Rändern dunkel. Er zwang sich, nicht an Luft zu denken, seine Kräfte nicht für einen sinnlosen Kampf zu vergeuden. Stattdessen versuchte er, seine knienden Beine in eine Stellung zu bringen, aus der er sich wegstoßen konnte. Der Boden war zu glitschig für einen festen Halt. Er brauchte …
»Mutter!«
Oh ja, Mutter. Er konnte sie lächeln sehen. Also war sie doch nicht gestorben. Ihre Umarmung war fest und liebevoll. In der Ferne spürte er seine Füße strampeln und abrutschen. Es war eine ermüdende Tätigkeit, und weder er noch seine Mutter wussten, welchen Sinn sie haben sollte. Es wäre besser, wenn er sich ausruhte und schlief. Dann ließ ein Arm ihn los, und der Griff des anderen wurde lockerer. Stolperzunge sog gierig Luft in seine Lungen, und das helle Dach schwamm über ihm. Er spürte, wie er zur Seite glitt.
»Nicht zu fassen!«, sagte eine vertraute Stimme. »Schau mal, Stolperzunge! Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten, und der arme Kerl ist immer noch am Leben, was? Stolperzunge?«
»Steingesicht?« Er setzte sich auf. Das Erste, was er sah, war das Blut, das viel zu langsam aus einer klaffenden Wunde in Quetschfausts Hals hervorquoll. Ein Arm des Mannes lag am Boden, wo Steingesicht ihn abgehackt hatte. Er versuchte immer noch zu sprechen, immer wieder dasselbe Wort: »Mutter«. Die anderen Gefangenen um ihn herum verstummten.
Steingesicht hockte sich neben Stolperzunge, und der üble Geruch seiner Zähne wurde völlig vom allgemeinen Gestank überdeckt. Ein Klumpen aus getrocknetem Blut verklebte das Haar auf einer Seite seines Kopfes, aber er lächelte trotzdem, als wäre er glücklich, an diesem wunderbaren Ort sein zu dürfen.
»Lass uns Indrani suchen, was?«
Sie war ein Stück weiter eingegraben. Auch sie versuchte, Stolperzunge das Leben aus dem Leib zu quetschen und rief nach ihrer Mutter. Doch Steingesicht hielt ihre Arme fest, während Stolperzunge mit Quetschfausts stumpfem Messer die Erde aufwühlte. Darin wimmelte es von gelben Maden, von denen die meisten nicht länger als sein Daumen waren. Ein paar waren so groß wie seine Hand, und diese versuchten mit winzigen Gliedmaßen von ihm wegzukriechen. Aber nicht lange. Irgendwann rollten sie sich zusammen und starben, ohne dass Stolperzunge etwas dazu beigetragen hätte, während die gefangenen Wesen um ihn herum weiter nach ihren Müttern riefen.
Blasen und Wunden in unterschiedlichen Größen überzogen die Bereiche von Indranis Haut, die in der Erde gesteckt hatten. Aber keine schien besonders tief zu sein. Selbst die Bisswunde in ihrer Wade, die ihr ein erwachsener Wühler zugefügt hatte, schien sich erstaunlich schnell geschlossen zu haben.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Mutter«, antwortete sie. Unbeholfen schlug sie nach ihm, bis sie sie zehn Schritte weit von den übrigen Gefangenen fortgezerrt hatten. Erst dann schloss sie die Augen, und der Ausdruck der Todesqualen verschwand von ihrem Gesicht.
Steingesicht bot an, sie zu tragen.
»Nein«, sagte Stolperzunge, obwohl Quetschfaust ihm die letzte Kraft aus dem Leib gedrückt hatte. Er hob sie auf die Schulter und taumelte zurück zum verwesenden Wald. Der große Jäger trottete voraus. Hinter ihnen nahm das Leid der unterschiedlichsten Wesen seinen Fortgang, die in ihren Schmerzen vereint waren. An Stolperzunge zerrte das beunruhigende Bedürfnis, wieder umzukehren und sie alle auszugraben, auch wenn sie keine Menschen waren. Er wusste, dass es dumm und gefährlich wäre – und falsch obendrein, denn zweifellos würde keins dieser geretteten Wesen zögern, ihn zu jagen. Nein, jedes Volk musste sich selbst um seine Artgenossen kümmern.
Indranis Zustand veränderte sich erst, nachdem sie die Deckung der Bäume erreicht hatten. Als sie grässliche Würgegeräusche von sich gab, legten sie sie besorgt auf den Boden. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich, sie rollte sich herum, bis sie auf Händen und Knien hockte und würgend hustete. Etwa fünfzig kleine Maden fielen aus ihrem Mund auf den moosbewachsenen Boden. Viele wanden sich
Weitere Kostenlose Bücher