Bone 01 - Die Kuppel
Stolperzunge getan hatte, war das Mindeste, was er sich verdient hatte, dass sein Fleisch von einem Freund verzehrt wurde.
Stolperzunge riss sich von diesen Gedankengängen los. Er durfte nicht mit der Suche nach Indrani warten. Er folgte den Blutflecken am Waldboden. Die Bäume schienen sich enger um ihn zu drängen, wodurch es fast wieder nachtdunkel wurde. Moos mit beißendem Geruch, ganz anders als zu Hause, hing an jedem Ast und hatte ihn bald mit kaltem Schleim überzogen. Das Fährtenlesen wurde außerordentlich schwierig. Trotz seiner Verletzungen hatte Quetschfaust sich einige Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, und mehrere Male hätte der junge Jäger sie ganz verloren, wenn er nicht immer wieder auf etwas Seltsames gestoßen wäre: einzelne Stücke aus seinem Werkzeuggürtel. Seine Schlinge hatte sich in den Zweigen eines Strauches verheddert, seine Nadel glitzerte in einem verirrten Fleck aus Dachlicht auf dem Boden. Er fragte sich, ob der andere Jäge ihn langsam in eine Falle locken wollte, aber das wäre eher Wandbrechers als Quetschfausts Stil gewesen. Nein, es konnte nur Indrani sein, die um Hilfe rief.
Er stolperte weiter, ohne auf die tausend Kratzer und den pochenden Schmerz in seinem linken Bizeps zu achten. Der Boden schwappte unter seinen Füßen, und ein erstickender Verwesungsgestank hing in der Luft. Als es Nacht wurde, hatte er sie immer noch nicht eingeholt. Er wurde immer verzweifelter.
Die Spur endete, als Stolperzunge das blutige Messer von Quetschfaust fand. Ringsum lagen im Unterholz versteckt die Eingänge zu drei Tunneln. Die Bestien mussten sich sehr vorsichtig einen Weg durch die Wurzeln gesucht haben, denn über dem Boden gab es keine Anzeichen für umgerissene Bäume. Es war ein vollkommener Hinterhalt. Stolperzunge spürte, wie seine Knie weich wurden. Er ließ sich zu Boden fallen und lag reglos auf dem Rücken, während er die Lichterstraßen am Großen Dach beobachtete. Jetzt musste er nicht mehr nach Indrani suchen. Er wusste, wo sie war.
Der junge Jäger zwang sich, bis zur Morgendämmerung zu warten. Er versuchte zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Als es hell wurde, schob er sich Quetschfausts Messer in den Gürtel und machte sich auf den Weg zum Waldrand. Von dort konnte er die Grenze des Reviers der Wühler sehen.
Stolperzunge trat ins Freie und ging an den Dächern versunkener Häuser vorbei zum Feld, wo die Körper lagen. In diesem Bereich drängten sie sich besonders dicht, sodass kein Platz war, um sich zwischen ihnen hindurchzubewegen, bis auf einen gelegentlichen Felsbrocken, der aus dem Boden ragte. Der Gestank war unglaublich, noch viel schlimmer als in seiner Erinnerung – wie eine Mischung aus Erbrochenem und menschlichem Kot. Er war so stark, dass der junge Jäger anhalten musste, um sich kleine Klumpen Moos in die Nasenlöcher zu stecken und tief durchzuatmen, bis der Übelkeitsanfall vorüber war.
Wieder lagen Teile seiner Ausrüstung zwischen den teilnahmslosen Opfern herum. Anscheinend hatten die Wühler keine Verwendung für anderes Werkzeug als ihre Krallen und sie deshalb nicht an sich genommen.
Zuerst fand er Quetschfaust. Auf einem menschlichen Gesicht waren die Todesqualen, die alle anderen gefangenen Wesen erlitten, viel offensichtlicher. Der Mann sagte nichts und schien nichts Bestimmtes zu sehen. Doch seine Augen quollen aus den Höhlen, und während sein Körper bis auf ein gelegentliches Zucken reglos dalag, bebten seine Nasenflügel, und er hatte die Zähne gefletscht. Der Boden reichte ihm nur bis zu den Hüften, und um ihn herum waren sein zerbrochener Speer, der Sprecher und Teile seines Werkzeuggürtels verstreut.
»Quetschfaust?« Doch es kam keine Antwort, nicht einmal das leiseste Anzeichen, dass er Stolperzunge erkannt hatte. Der junge Jäger wollte Indrani wiederfinden. Genauso wie Quetschfaust war sie erst seit kurzem hier. Stolperzunge hoffte, das bedeutete, dass auch sie irgendwo am Rand des Feldes gefangen gehalten wurde. Aber er brauchte den Sprecher, und er wollte keinen Menschen in solchen Todesqualen zurücklassen, nicht einmal Quetschfaust. Also packte er seinen Speer und stieß ihn entschlossen mitten in das Herz des großen Mannes.
»Mutter!«, sagte Quetschfaust. »Ach, Mutter!«
»Still!«, flüsterte Stolperzunge. »Sonst machst du sie auf mich aufmerksam.«
Quetschfaust griff nach dem Speerschaft und drückte ihn noch tiefer in seinen Körper, bevor der überraschte Stolperzunge ihn loslassen
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