Bone 01 - Die Kuppel
er wissen sollte. Am liebsten hätte er Yama an den Schultern gepackt und ihn angefleht, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Allmählich fasste er sich wieder und schaffte es, seine Atmung zu beruhigen und seine Stimme zu besänftigen.
»Yama, ich bin nicht hierhergekommen, um über diese Themen zu reden. Ich habe von deiner Bande gehört.« Er bemühte sich, seine Verachtung nicht zu zeigen. Der Älteste Kubar hatte ihm erzählt, wie die Jungen oben auf dem Dach ständig die Alten und Schwachen terrorisiert hatten.
»Bring jeden zu mir, der von ihnen noch am Leben ist. Und bring auch die Leute mit, gegen die ihr gekämpft habt. Wir treffen uns bei Anbruch der Nacht auf dem Dach dieses Gebäudes.«
Stolperzunge überließ den Jungen seiner blutigen Arbeit und versuchte seine Gedanken von den angeblichen Verbrechen seiner Vorfahren abzulenken. Damit würde er sich ein andermal auseinandersetzen. Er musste einen Jagdzug planen, und dazu brauchte er mehr als ein paar ungezogene Kinder, wenn er Erfolg haben wollte.
Der enge Bogen des Hauptquartiers bestand aus drei Gebäuden. Den Eingang erreichte man nur, wenn man zwischen den »Armen« hindurchging. Natürlich gab es noch viele andere Türen, aber sie waren durch starke Metallbarrieren versperrt, und Varaha versicherte Stolperzunge, dass kein lebendes Wesen »das Recht hat, sie zu öffnen«. Was auch immer das bedeuten mochte. Selbst mithilfe des Sprechers bekam er auf viele seiner Fragen keine vernünftigen Antworten. Also gab er sich damit zufrieden, dass keine Bestie die Türen aufbrechen konnte; schließlich wohnten dahinter menschliche Familien dicht gedrängt und übereinandergestapelt, wie die Zähne im Mund einer Bluthaut. Leichte Beute.
Als es Nacht wurde, traf sich Stolperzunge mit etwa vierzig anderen Jägern auf dem Gebäude, das die Mitte des Bogens bildete. Hier war das Dach eine halbe Mannslänge niedriger als auf den seitlich abgehenden »Armen«. Als die Leute eintrafen, hörte er, wie sie heruntersprangen, das Klatschen vieler Füße auf einer unbemoosten Fläche und das Murmeln neugieriger Stimmen.
Er war sehr enttäuscht, dass Steingesicht nicht gekommen war, obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, ihn einzubeziehen. Von den Versammelten waren mehr als zehn Begleiter von Yama; und sie waren so jung, dass man ihnen zu Hause nie erlaubt hätte, auf die Jagd zu gehen. Indrani war auch dabei, und wenn Stolperzunge redete, wanderten die Blicke der Männer immer wieder in ihre Richtung, was ihn dazu brachte, leise mit den Zähnen zu knirschen. Noch schlimmer war es, dass Varaha in ihrer Nähe saß. Von allen sah er sie am häufigsten an. Sie antwortete nur mit finsteren Blicken. Es war, als wäre zwischen ihnen etwas geschehen, in das Stolperzunge nicht eingeweiht war. Vielleicht ein Streit. Dieser Gedanke hätte ihn aufmuntern sollen, aber er tat es nicht. Sowohl Varaha als auch Indrani waren Idealbilder ihres jeweiligen Geschlechts. Ein Paar, dachte Stolperzunge, das nur noch nicht erkannt hatte, dass es ein Paar war.
Indrani stellte zwei jüngere Frauen vor, die sie mitgebracht hatte.
»Sie sagten mir, dass sie wissen, wie man mit einer Steinschleuder umgeht«, erklärte sie. »Ihr Vater hat ihnen die antiken Kampftechniken seiner Vorfahren vorgeführt.«
»Haben sie mit ihren Schleudern schon einmal etwas getötet?«
Indrani schnaufte. »Wir sollten nehmen, was wir bekommen können, Stolperzunge, und dafür dankbar sein.«
Die beiden Frauen – Sodasi und Kamala – verbeugten sich vor ihm. Sie waren hübsch, und ihre Achtung schmeichelte ihm. Er hatte schon wieder vergessen, dass viele dieser Leute ihn als Häuptling betrachteten. Er zog Indrani beiseite und fragte sie, ob sie das auch schon gehört hatte. Sie reagierte recht aufgeregt, vielleicht als Folge ihrer Auseinandersetzung mit Varaha zuvor.
»Natürlich bist du der Häuptling, Stolperzunge.«
»Aber ich bin nicht wie Speerauge …«
»Nein, weil er nicht hier ist. Aber du bist hier. Und jetzt hör endlich auf zu warten, bis die Leute still sind. Sag ihnen, das sie still sein sollen.«
»Ist … ist mit dir alles in Ordnung, Indrani?«
»Natürlich. Aber jetzt lass uns zur Sache kommen. Wenn du willst, dass die Idioten überleben, solltest du anfangen, ihnen Befehle zu geben, weil du hier der Einzige bist, der weiß, was getan werden muss.«
Sie hatte recht. Der Häuptling sollte sein Volk führen, er sollte es versorgen. Er blickte auf. »Bitte«, begann er. Dann:
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