Bone 01 - Die Kuppel
nicht anders haben wollte. Mehrere Male hatte er den Eindruck gehabt, dass sie fast so weit gewesen war, ihre Meinung zu ändern. Doch dann hatte sie jedes Mal den Kopf geschüttelt und sich auf ihre typische Weise auf die Lippe gebissen, bevor sie gegangen war und sich eine andere Beschäftigung gesucht hatte. In den letzten Nächten hatte sie neben ihren Waisenkindern geschlafen. Nicht bei ihm. Natürlich war es für ihn schmerzhaft gewesen. Es schmerzte auch, dass die jungen Männer, die sie angeblich hassten, ihr trotzdem nachblickten. Wie lange würde es dauern, bis sie diese Blicke erwiderte? Schließlich waren sie zivilisierte Menschen, im Gegensatz zu ihm. Er seufzte und verdrängte diese Gedanken, als ihm bewusst wurde, dass Varaha immer noch mit ihm sprach.
»Sag mir deine ehrliche Meinung, Stolperzunge … Du glaubst nicht, dass unsere Jäger gut genug sind, wenn uns die Vorräte ausgehen, oder?«
Die fraglichen Jäger blickten nervös vom Moosteppich auf, wo sie sich ausruhten. Sie sahen nicht aus, als würden sie eine weitere Folterrunde mit ihren Ausbildern überstehen, ganz zu schweigen von einer echten Jagd.
Stolperzunge schüttelte den Kopf. »Jedes Mal, wenn ein Volk ausgerottet wird, übernimmt ein neues seinen Platz, nicht wahr?«
»Richtig«, sagte Varaha.
»Zu Anfang gibt es sehr viele von einem neuen Volk. Sie füllen jedes Haus in ihrem Revier. Sie gehen oder kriechen durch die Straßen und wissen nicht, wie sie sich verteidigen sollen. Sie wissen nicht einmal, dass sie sich verteidigen sollten .«
Abgesehen von den Langzungen , dachte er.
»Also kommen Wesen von überall, um die leichteste Beute ihres Lebens zu machen. Sie holen so viel Fleisch wie möglich, auch wenn es nie lange vorhält. Früher oder später wird das neue Volk entweder lernen, sich zu wehren, solange es noch genug Mitglieder hat, um zu überleben, oder …«
»Oder«, sagte Varaha, »es wird ausgelöscht und wiederum durch ein anderes neues Volk ersetzt. Das wieder leichte Beute ist.«
»Genau«, bestätigte Stolperzunge. »Von uns sind nicht mehr allzu viele übrig, und wir sind keine guten Kämpfer. Selbst wenn unsere Nachbarn Verluste erleiden, könnte es sich für sie lohnen, uns schnell auszurotten.«
Varaha lehnte sich zurück, um seine Worte zu verdauen. »Also müssen wir dafür sorgen, dass es sich für sie nicht lohnt«, sagte er. »Geht es darum? Dass es für sie zu kostspielig wird, uns zu jagen?«
»Genau«, sagte Stolperzunge und seufzte. »Wahrscheinlich werden sie erkennen, dass sie uns innerhalb von tausend Tagen einfach durch Zermürbung vernichten können. Ich hoffe nur, dass sie nicht so geduldig sind.« Er stand auf. »Du und du« – er suchte zwei grauhaarige Männer aus –, »ihr geht und… ihr geht und tut etwas anderes.« Sie humpelten davon, bevor er es sich möglicherweise anders überlegte.
Die übrigen sechs musterte er mit kaltem Blick. Sie hatten bereits den halben Tag damit verbracht, Steine auf die Dächer der Gebäude zu schleppen. Wenn er die Übungen mit ihnen beendete, würden sie bis zum Anbruch der Dunkelheit daran arbeiten, armselige Waffen nach dem Vorbild jener zu fertigen, die sie von ihren Feinden erbeutet hatten. Andere Gruppen waren losgezogen, um Holz zu sammeln. Währenddessen waren die Frauen den ganzen Tag lang damit beschäftigt, unter großem Widerwillen Knochen zu schärfen oder bei Indranis Übungen im Steinewerfen hin und her zu rennen.
Stolperzunge glaubte nicht daran, dass irgendwer aus seiner Gruppe auch nur eine kleine Plänkelei überleben würde. Es sei denn… er beschränkte sich auf die Männer, die zumindest eine gewisse Begabung zeigten, und teilte den schwächeren Hilfsaufgaben zu.
»Mir ist gerade eine Idee gekommen!«, sagte er zu Varaha.
Er überließ die Jäger seinem neuen Freund und machte sich auf die Suche nach Yama.
Als er ihn fand, schlachtete der gerade die Leiche des alten Häuptlings für eine Gruppe dankbarer Frauen. Die meisten konnten nicht zusehen und hielten die Hände über Mund und Nase, die Gesichter zur Wand gedreht. Der Häuptling sah geschrumpft und geschwächt aus.
Yama begrüßte Stolperzunge mit einem Grinsen. »Mein Stiefvater«, erklärte er. »Er wollte nicht den kleinsten Happen von dem nehmen, was ich ihm gebracht habe. Jetzt gehört er mir!«
Yama drückte die Kiefer der Leiche auseinander, griff dazwischen und zog die Zunge heraus. Dann wedelte er damit vor den alten Frauen herum und bespritzte sie mit
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