Bonita Avenue (German Edition)
Gartenweg säumen. Diesmal macht das Schloss keine Mucken.
Er betritt die Diele wie einen wiederkehrenden Traum: der leichte Tiergeruch, das Geräusch von über den Boden rutschenden Werbeprospekten. Er schließt die Tür und lauscht mit angehaltenem Atem. Eine Million Staubteilchen spielen Ringelpiez, das Wirbeln der Stille. Im Wohnzimmer das vertraute Stillleben: Die zimmerbreiten Vorhänge zur Straße hin sind immer noch geschlossen, die Badmintonschläger auf dem Couchtisch liegen unverändert da. Er hat einen trockenen Mund, trinkt in der Küche mit großen Schlucken aus dem Wasserhahn. Einen Moment lang schaut er aus dem Küchenfenster. Aarons Fahrrad lehnt an den ausladenden Nadelgehölzen.
Mit geräuschlosen Adrenalinschritten geht er die Stufen zum Treppenpodest hinauf. Der Geruch von Staub und Wäsche. Er stellt die Sporttasche ab, betastet aus Aberglauben den Baumwollstoff seines Judoanzugs und schaut nach oben. Die unendliche Geduld der Gegenstände. Traut er sich das? Sein Schlachtplan ist simpel: Er schneidet das Bügelschloss irgendwie auf; findet er nichts, dann hat er sich schändlich geirrt, in dem Fall verlässt er jubelnd dieses Reihenhaus und sorgt dafür, dass es für immer ein Rätsel bleiben wird, wer das Abus-Schloss aufgebrochen hat; findet er aber das, wovor er sich fürchtet, dann ist das Schloss … dann ist alles vollkommen egal.
Er zerrt den Bolzenschneider aus der Tasche. Der Zangenkopf ist aus glänzendem, unzerkratztem Stahl. Die mit Gummi ummantelten Griffe sind so lang, dass er keinen Stuhl braucht. Mit pochendem Herzen hebt er die Zange in die Höhe und klemmt die Backen um das spiegelnde U. Das Schneiden kostet Kraft, seine Oberarme zittern, die Zange ist schwer. Mit größtmöglicher Kraft setzt er an. Dann gleiten die Schneiden durch den Stahl wie durch eine Lakritzstange. Um das Schloss aus den Ringen auf Luke und Rahmen herauszuwinden, muss er doch noch einen Stuhl aus dem Arbeitszimmer holen, auf den er dann mit bebenden Oberschenkeln steigt. Mit einem dumpfen Rums lässt er das kaputte Schloss in die Sporttasche fallen. Er holt tief Luft und zieht unter höllisch lautem Knarren die Bodentreppe herunter.
Das viereckige Loch, das auf den Dachboden führt: Seifenlauge spannt sich zwischen den hölzernen Rändern, eine widerspenstige molekulare Schicht letzter Hoffnung. Die innige Hoffnung, er leide unter Paranoia, die Hoffnung, dass alles sich in Wohlgefallen auflösen werde, ein sanft glänzender Film Seifenwasser, den er mit jeder knarrenden Stufe weiter auf die Probe stellt – bis seine Augen den Dachboden abtasten und der Film zerreißt.
Was hast du denn geglaubt?
Er darf nicht fallen. Als würde er gekreuzigt, spreizt er die Arme auf dem blutroten Teppichboden, zwei Nägel durch seine Handflächen. In den nächsten Sekunden besteht er nur aus Kopf und Armen; sein Rumpf, seine Beine, die Treppe, das Haus, Enschede – die ganze Erde unter ihm ist wie weggeschlagen.
Was er von den Fotos kennt, entfaltet sich rasend schnell in drei Dimensionen, was auf den Fotos geruchlos war und an sich ungefährlich, hat nun das tödliche Aroma von unbehandeltem Holz, von Staub und von etwas Sanftem, etwas Fraulichem, einem teuren Talkpuder. Was er wahrnimmt, ähnelt auf krankhafte Weise einem mathematischen Beweis, dem, was sein geliebter Hardy unter einer an Unausweichlichkeit, an Effizienz, Eleganz gekoppelten Überraschung verstand: die helle Lampe, die aufleuchtet, wenn man den Beweis erbringt. Denn jetzt wird alles schwarz.
Aus der Ferne dringt schweres Keuchen zu ihm durch – sein eigener Atem. Der Dachboden ist größer, als er erwartet hat, der rote Teppichboden, der seine Arme versengt, erstreckt sich über die gesamte Breite des Hauses. Mildes Abendlicht fällt durch ein geschlossenes Velux-Dachfenster. In der Mitte des Raums ein hölzernes Bett in romantisch-ländlichem Stil, Kopfkissen mit Spitzensaum, ein weißes Plumeau, das sich bauscht wie frischer Schnee in einem Dickens-Film. Auf beiden Seiten stehen Stative mit Lampen, die Professionalität der beiden Vogelscheuchen erschreckt ihn, das ist kein Dachbodenzimmer, das ist ein Studio . An den schrägen Wänden hängen Poster, sorgfältig ausgewählte Poster, wie ihm sofort klar ist, Poster, die mit Absicht nichts mit Joni und Aaron zu tun haben: eine Panoramaaufnahme des Grand Canyon, das Foto mit den zwei Kätzchen, das Plakat von Céline Dion in Las Vegas. An der Giebelwand mit ihrer weiß-rosa gestreiften
Weitere Kostenlose Bücher