Bonita Avenue (German Edition)
Tapete entdeckt er das Regal, in dem die amerikanischen Bücher stehen, er kennt sie von den Fotos in Shanghai – eine Woge der Verbitterung und des Entsetzens durchströmt ihn: die Berechnung, die heimtückische Perfektion dieses Regals.
Rechts, unter dem Velux-Fenster, sieht er einen kleinen Schreibtisch mit einem Computer darauf; weiter unten, in Augenhöhe, dort, wo die Schräge einen dunklen, spitzen Winkel bildet, stehen stoffbespannte Schubladenschränkchen auf Rädern, aus denen Kleidung quillt: Negligées, Lingerie, da sind sie also, die Umsatzsteigerer. Auf der anderen Seite des Raums ein grüner Frisiertisch mit einem ovalen Spiegel; Spraydosen und Deodorant-Stifte stehen hier, davor eine nostalgische Schneiderpuppe, die anstelle von Beinen einen vierfüßigen Ständer auf Rollen hat. Auf dem gesichtslosen Holzkopf ruht die schwarze Glatthaar-Perücke seiner Vorahnungen. Als versetzte ihm jemand einen Schlag, bemerkt er, dass die Gegenstände auf dem Frisiertisch keine Spraydosen sind, sondern Penis-Imitate aus Kunststoff. Tränen schießen ihm in die Augen. Dildos. Er kann das Wort denken , das geht ja noch, aber aussprechen wird er es nie.
Ein paar Minuten lang starrt er keuchend zum Dachfirst hinauf, der Talkgeruch vergiftet ihn. Ein tragender Balken erstreckt sich über die ganze Länge des Dachbodens. Ein Seil darum binden. Als ihm bewusst wird, dass seine Augen nach einem Hocker suchen, schlägt er mit beiden Fäusten kräftig auf den Boden, fast verliert er sein Gleichgewicht, die Treppe unter ihm wackelt und knarrt.
Er ist jemand, der weiß, wie viel Mühe es kostet, eine Leistung zu vollbringen, die andere in Erstaunen versetzt, oft enttäuschend kurz in Erstaunen versetzt, weil sie vielleicht nicht begreifen, welche immensen Anstrengungen im Vorfeld damit verbunden waren. Das erste Mal, dass ihm eine Spur dieses Talents – der Fähigkeit, ausdauernd und konzentriert auf ein fernes Ziel hinzuarbeiten – an Joni auffiel, war in Boston, sie musste eine Hausarbeit zu einem selbstgewählten Thema anfertigen und präsentierte als Elfjährige einen zwanzig Seiten langen Aufsatz über Dwight D. Eisenhower. Während ihre Klassenkameraden sich für Afghanische Windhunde, Vulkane oder die Boston Red Sox entschieden hatten, schrieb sie über West Point, über die Invasion in der Normandie, die Vereinten Nationen, Ikes Einzug in das Weiße Haus – Wissen, das sie sich aus verschiedenen Quellen in der MIT-Bibliothek zusammengesucht hatte, wo sie sich mit seinem Ausweis ein paar Nachmittage lang umtat und Bilder und Buchseiten auf den Kopierer legte. Sie hatte ihn gerührt, Jonis Arbeit, für die sie ein A minus bekam («minus» wegen der Diskrepanz zwischen ihrem eigenen, mäßig guten Englisch und dem Englisch der Passagen, die sie ein wenig übereifrig aus backsteindicken Harvard-Biographien abgeschrieben hatte, erklärte sie ihm). Diese Leistung hatte ihm Vertrauen in ihre Zukunft gegeben.
Zu wissen, dass sie mit der Entschlossenheit von damals, mit der gleichen Intelligenz und Eigensinnigkeit sich dieses Internet-Bordell ausgedacht hatte … Hatte er sie etwa zu diesem Zweck motiviert, die Schule ernst zu nehmen? Ihre Hausaufgaben zu machen? Um ein Neppbücherregal zu füllen? Um auf dem Dachboden die Hure zu spielen?
Hinter sich entdeckt er ein Gestell mit Pumps. Er erkennt jedes einzelne Paar von den Fotos wieder, die Lackpumps in allen Bonbonfarben, die weißen mit den Schleifchen, die Burberry’s, die mit einem Knöchelriemchen, die mit offener Spitze. Schuhwerk, in dem er seine Tochter nie in der Wirklichkeit gesehen hat. Mit äußerster Anstrengung langt er ins Gestell und angelt ein satinschwarzes Exemplar heraus, das er mit dem kleinen Finger zu sich heranholt. Der Absatz ist schmal und dünn, über die Öffnung an der Schuhspitze ragt eine Rosenapplikation aus weichem Stoff. «Karen Millen» steht auf dem Fußbett. Er streichelt den Absatz mit seinem Zeigefinger. Dann schleudert er das Ding mit aller Kraft durch den Raum, mit einem hohlen Klacken trifft es gegen das Bücherregal und fällt zu Boden.
Er kommandiert seine gefühllosen Beine die ausklappbare Treppe hinab. Auf dem Flur im Obergeschoss stopft er mit wütenden Bewegungen den Bolzenschneider in die Sporttasche, er will die Leiter hochschieben, überlegt es sich aber anders. Länger allein sein. Keine Menschen. Panik bei der Vorstellung, im vollen Saal einer Studentenverbindung Fußball gucken zu müssen. Mit der
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