Bonita Avenue (German Edition)
er sie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, heimlich beobachtet und begehrt hat.
Endzeitgedanken über das Internet, an das er von Anfang an geglaubt hat, das von ihm als Wissenschaftler und Rektor sogar mitaufgebaut worden ist und nun wie ein Stundenhotelzimmer unter seinem Campus liegt. Endzeitgedanken über Aaron, den jungen Mann, der sich ihm gegenüber als Freund ausgibt, den er bis in seinen engsten Familienkreis vordringen ließ. Wer ist dieser Aaron Bever eigentlich? Er betrachtet die Dinge um sich herum ein wenig genauer, den sauteuren Verstärker und CD-Spieler von Luxman, die elektrostatischen Boxen, die Tausende von Büchern, die Möbel, die ihm auf einmal erstaunlich teuer und exklusiv zu sein scheinen.
Endzeitgedanken über seine Rolle als Erzieher. Was hat er falsch gemacht? Hat er Signale übersehen? Zu sehr auf Leistung gepocht? Hat er genug mit seinen Töchtern geredet? In seinem Hirn findet ein Eilverfahren über nature und nurture statt, Kompromissvorschlag: Er steht für beides. Seinen Sohn zog er nicht auf, seine Töchter zeugte er nicht – über die Ergebnisse könnte er heulen, würde der Alkohol ihn nicht ruhigstellen. Endzeitgedanken über das Jahr, als er sie beide in seiner Obhut hatte, Wilbert und Joni, seine weitreichenden Verdächtigungen gegenüber seinem Sohn, seine Sorgen hinsichtlich Wilberts hormonaler Reaktion auf die plötzlich über ihn gekommene Schönheit seiner Stiefschwester. Eine Frage, die sich wie Gift in den Gedankenstrom mischt: Was kann man von fremden Genen erwarten? Ist sie überhaupt seine Tochter? Wer ist Joni?
Währenddessen macht der Whisky ihn auch … nachgiebig. Ein gewisses Laisser-faire wird freigesetzt, das eigentlich nicht zu ihm passt. Das Korsett des Anstands, die Zwangsjacke seiner gesellschaftlichen Stellung, seiner … Generation? – Sie lockern sich allmählich. Entspannung tritt ein. Er liebt sie doch? Er liebt Joni, von ganzem Herzen, er liebt sogar Aaron. Versetz dich in sie hinein. Die Abgeschlossenheit von Aarons Haus fordert ihn dazu auf, sich in die beiden hineinzuversetzen. Die aufrichtige Frage, warum sie das tun – warum tun sie es? Macht es ihnen Spaß? Die Antwort liegt auf der Hand, natürlich macht es ihnen Spaß. Sie finden es erregend. Sie sind jung, und sie sind reich. Sie tun es einfach. Sie tun es aus Begierde und Habsucht. Sie sind rücksichtslos. Und er? Er liebt Jim Beam.
Es ist Viertel vor acht. Taumelnd erhebt er sich, geht schwankend zum Spirituosenschrank, stellt den Whisky mit einem kristallenen Klirren zu den anderen Flaschen. Er trocknet seine Lippen mit dem Ärmel. Eine weitere Stimmung hat von ihm Besitz ergriffen, eine düstere Stimmung, eine Stimmung, die möglicherweise nicht einmal von Belang ist. Schauder erfassen seinen Körper, als er das Zimmer verlässt. Die Treppe ins erste Stockwerk klingt hohl, lange muss es nicht dauern. Mit beschleunigtem Herzschlag schließt er auf dem Flur alle Türen, Bügelzimmer, Badezimmer, Arbeitszimmer, Schlafzimmer. Er atmet tief ein, hält sich an der Bodentreppe fest, lässt wieder los, wischt seine Schweißhände an der Hose trocken. Von bösartigem Selbstmitleid erfüllt, ich hab’s verdient , steigt er die knarrenden Stufen hinauf. Der süßliche Geruch des Talkpuders macht ihn nur entschlossener. Er ist nicht Woody Allen, er ist kein Wissenschaftsminister.
Der Dachboden ist ein Dachboden in Kentucky. Mit angehaltenem Atem schließt er die Luke und schaut sich um. Wie soll er vorgehen? Es gibt viele Möglichkeiten. Tiefe Stille, aber dennoch hört er es, aus dem hintersten Winkel dringt eine Melodie an sein Ohr, sie kommt aus dem Schuhgestell, der farbenprächtigen Orgel aus hohen Absätzen. Vielleicht hat das Gestell gewartet, hat ihn in aller Ruhe seine Wut austoben lassen. Vielleicht belauert es ihn schon die ganze Zeit.
Schnaubend öffnet er seine Schnürsenkel und zieht die Schuhe aus; der Teppichboden drückt sich reglos und weich in seine Fußsohlen. Schlucken kann er nicht. Seine Hose und seine Boxershorts rutschen raschelnd auf seine nackten Fußknöchel, mit einem Keuchen zieht er sein Oberhemd über den Kopf. Er geht ums Bett herum, auf einmal grauenhaft nackt, es ist eine neue Nacktheit, die sich offenbar unter seiner gewohnten Nacktheit versteckt hielt, und hebt den Satinpump vom Boden auf. Während er mit Daumen und Zeigefinger seine Vorhaut festhält, als wäre sein Glied ein aufgeblasener Ballon, betrachtet er den Schuh von allen Seiten.
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