Bonita Avenue (German Edition)
am Ende ein zu langer Applaus und Häppchen auf mikroskopisch kleinem Toast. Aber in seinem tiefsten Wesen war Murk ein Prolet. Jahr für Jahr ließ er sich nach dem «Ex und hopp» im getäfelten Versammlungssaal der Alten Herren seiner Verbindung im Enscheder Krankenhaus den Magen auspumpen, vierundzwanzig Flaschen Bier, die er im Rahmen eines Wetttrinkens mit Hilfe von Versiertheit und Charakter als Schnellster in sich reingeschüttet hatte. Bei den alljährlichen Inkorporationsritualen, die die Mitgliedschaftsanwärter durchlaufen mussten, verteidigte Murk wie ein bleichgesichtiger Hulk die lange Treppe zur Kneipe, fluchend und brüllend, der schwabbelige nackte Oberkörper triefend vor Salatöl, die Hungerbecken und -nacken eingeschüchterter Achtzehnjähriger, die sich das alles ganz anders vorgestellt hatten, fest im Griff.
«Ich komm gerade von der Arbeit», sagte Aaron. «Mir ist nicht gut.»
«Kannst wieder umdrehen, Bever», sagte Björn. «Es gibt einen Umtrunk. Danach geht’s dir besser. Wir feiern dein Singledasein.»
«Wer behauptet, dass ich Single bin?»
«Ich», sagte Björn. Er fuhr sich mit der Hand über das muskulöse Frettchengesicht.
«Jeder tut das», sagte Murk.
«Dein Mäuschen hat es mir selbst erzählt», sagte Björn. «Dein Ex-Mäuschen.»
Ihr seid mir doch zuwider, dachte er. Vielleicht war er ja wegen dieser Art von Arschlöchern damals aus Utrecht geflohen, etwas, was Joni sich kaum hätte vorstellen können, wenn er es ihr gestanden hätte. Weil man Björn und Murk immer zusammen sah, nannte Joni die beiden gar nicht mal unoriginell «Björk». «Gestern war ich im Kater, und wer kommt rein: Björk.» Die Leichtigkeit, mit der sie die beiden Brüllaffen in die Tasche steckte!
Joni wusste sowieso wenig über das Utrechter Debakel, an das er seit einigen Wochen immer wieder denken musste. Wenn er davon erzählte, beließ er es bei vagen Andeutungen. Nach dem Abitur war er mit einem Studentenkochbuch und einem dicken Schmatzer seiner Mutter nach Utrecht gezogen, um Niederländische Literatur zu studieren. Ein Drama entwickelte sich daraus. Er bestand zwei Drittel seiner Zwischenprüfungen nicht, denn weil er das Aufnahmeritual der Studentenverbindung nicht vollständig absolviert hatte, verpasste er die Einführungsveranstaltung der Fakultät, und die Folge war, dass er niemanden kennenlernte, der ihm durch den Utrechter Winter hätte helfen können. In dem Zimmer, das er bei seiner Großtante in Overvecht gemietet hatte, einem Außenbezirk mit Wohnriegeln aus Asbest, in dem alle Straßen Soundsoallee hießen und es einen eigenen Bahnhof mit zwei Gleisen zum Sichdrauflegen gab, war er eingegangen wie eine Primel. Die Stadt des Neude-Platzes, der Biltstraat und der Vredenburg endete dort, vom sechsten Stock aus schaute er auf einen dunkelgrünen Ozean aus Gras, der Granitbalkon seiner Großtante markierte den äußersten Rand, die Grenze. Seine Schlaflosigkeit war damals manifest geworden, oft wachte er um vier, halb fünf auf, schob den Riegel an der Tür zurück und erkältete sich auf einem Plastikstuhl, bis er zur Uni musste. Stunden später quälte er sich auf dem zu kleinen Damenrad seiner Großtante in Richtung Innenstadt, ein deprimierendes Herumkurven durch das zugige Utrecht-Noord, das ihn jetzt an seine Fahrten mit dem Rad durch das zerstörte Enschede denken ließ. An den vielen Haaren auf dem Kissenbezug, den er von seiner Großtante bekommen hatte, sah er, dass er an Haarausfall litt, genau wie ihre seidenweiche Zahnbürste, die er heimlich benutzte, weil er ständig vergaß, sich eine eigene zu kaufen.
«Erst vor kurzem hab ich mit ihr gesprochen», zischte Björn.
«Mit wem?», fragte er.
«Na von wem reden wir wohl? Deinem Mäuschen natürlich. Sie war im Gat, um sich von ihrer Verbindung zu verabschieden.» Das «Gat in de Markt»: eine feuchte Kneipe im Souterrain, ein Loch, wie der Name schon sagte, das in den Oude Markt buchstäblich hineingebohrt war. Nachrichten über Joni im Gat waren immer schlechte Nachrichten. «Ein einziger Schluck Bacardi», fuhr Björn mit schleppender Stimme fort, «und sie tritt so nah an dich heran, dass sie dich mit ihren Titten berührt. Sie erzählt dir alles, was du wissen willst. Und was du nicht wissen willst. Und die ganze Zeit spürst du diese Prachtmöpse. Schade, dass sie jetzt in Amerika ist.»
Seine großen Augen standen schräg, das Augenweiß war gelb. So oder so, jedes Mal kam dieses Frettchen auf Jonis
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