Bonita Avenue (German Edition)
Toilette noch einmal las, sofort hinunterspülte.
Es war der Tag des Strandes. Er würde am Abend um Punkt acht Uhr nicht am Strandpfahl 101 stehen, hatte er beschlossen, und er würde auch keine Tasche mit Geld vergraben. Das war das Resultat seiner glücklichen Erkenntnis, eine Schlussfolgerung, für die er Tineke unausgesprochen mehr als dankbar war. Er hielt sich selbst nicht mehr unbedingt für erpressbar, und um diesem Gedanken eine feste Grundlage zu geben, arbeitete er in seinem Ministerium heimlich an einem ernsthaften Brief an Joni, in dem er ihr Wilberts Erpressungsversuch schilderte und sie fragte, ob er damit rechnen könne, dass sie Seit an Seit stünden, sollte Wilbert es tatsächlich wagen, seine Drohung wahr zu machen. Aber ob es nun daran lag, dass er zu beschäftigt war und immer wieder unterbrochen wurde, oder daran, dass er einfach nicht über seinen Schatten springen konnte – den Teil des Briefs, in dem es um den Vorfall mit der Terrassentür gehen sollte, den kriegte er nicht auf die Tastatur.
Vielleicht ja deswegen merkte er, dass sich seine Stimmung im Laufe des Tages veränderte, der Triumph verebbte, er wurde milder, weichherzig, vielleicht sogar sentimental. Jetzt, da die direkte Bedrohung schwand, kroch er aus seinem Bunker und verspürte den Wunsch, sich in seinen Sohn hineinzuversetzen, zum ersten Mal seit Jahren, denn schließlich handelte es sich um einen jungen Mann von neunundzwanzig Jahren, jemanden, der ungefähr so alt war wie er, als er Margriet wie eine heiße Kartoffel fallenließ – blutjung noch, eigentlich. Seine Zunge tastete den Begriff «ministerielle Verantwortlichkeit» ab wie einen Zahn, aus dem die Füllung herausgefallen ist. Tagsüber in seinem Büro in Zoetermeer, von dringlich Anstehendem abgelenkt, ging es einigermaßen, doch schon auf dem Heimweg zum Hooikade wurde er von Szenen heimgesucht, in denen sein Sohn die unterschiedlichsten Rollen spielte: Plötzlich saß der Junge auf einem Lenkradsitz vorn an seinem Fahrrad, und über Wilberts weiches Kinderhaar gebeugt, strampelte er verbissen durch das menschenleere Utrecht, weil er den Untergang der Oranjes im Weltmeisterschaftsfinale nicht verfolgen konnte; dann das rauflustige Pantherjunge, das fünfzehn Jahre später auftauchte, um, wie es schien, seine Frauenfamilie aufzumischen, und hinter dem Bauernhaus spielerisch von ihm bei den Handgelenken gepackt wurde, die anrührende Kraft in diesem Knabenkörper, er spürte sich selbst ; der grimmige, gesenkte Kopf im Gerichtssaal in Almelo, noch nicht einmal ein Jahr später – all das erschien vor seinem geistigen Auge, und er dachte: Was ist mein Anteil daran? Wie lebt dieser Junge? Und wofür? Für wen? Froh war er darüber keineswegs, doch Hälmchen des Mitleids schossen in ihm hoch.
Es hat angefangen zu schneien, der Volvo bahnt sich seinen Weg durch geisterhaftes Schneegestöber. Sein Staatssekretär ruft an. Während sie reden, tauchen beflockte Schilder mit Ortsnamen und Entfernungsangaben aus dem Dunkel auf, bei Deventer signalisiert er seinem Fahrer, bei einem McDrive anzuhalten. Auf einem Parkplatz essen sie ihren Hamburger Royal mit Fritten und unterhalten sich dabei in aller Ruhe über den angekündigten strengen Frost, über Skigebiete und darüber, wann man am besten in Winterurlaub fahren kann.
Verdammt – dein eigenes Fleisch und Blut. Selbst für Wilberts unbeherrschte Raserei hat er versucht, Verständnis aufzubringen, eine mühevolle Übung in Empathie, auch um zukünftigen Ärger vorwegnehmen zu können, sicher, natürlich steckte Berechnung dahinter, sie hatten zusammen lebenslänglich, so viel stand inzwischen fest – aber auch zur Selbstkorrektur tat er es: Welche Fehler hatte er gemacht? Er versuchte, sich vorzustellen, wie es für einen siebzehnjährigen Jungen wie Wilbert gewesen sein musste, in ihre Familie zu kommen, aus dieser ärmlichen Sozialhilfebude in ihr großzügiges, von Pappeln umstandenes Bauernhaus, in dem wohlgenährte, tatkräftige, leistungsstarke Menschen ihr geordnetes und sicheres Leben führten.
Mit solchen Gedanken trug er sich in der Woche zuvor im Ministerium, und als ihn sein Chauffeur am Hooikade abgesetzt hatte, da wusste er, was zu tun war. Er tauschte seinen Anzug gegen eine Jeans und einen Fleecepullover, schob das klapprige Damenrad, das unten im Treppenhaus stand, auf die Straße. Besser doch zum Strand. Innerlich aufgewühlt, gleichzeitig aber auch beruhigt, war er durch die Kälte nach
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