Bonita Avenue (German Edition)
querformatigen Fenster seines ehemaligen Büros empor; sein Nachfolger lässt die Lamellen der Jalousie geschlossen, es brennt ein schwaches Licht. Der Campus ist eine gezuckerte Weihnachtskarte, ergeben lassen die Felder es sich gefallen, dass weiße Decken über sie gelegt werden, nur der breiteste Asphalt wehrt sich noch. Vor einem der Studentenwohnheime in der Calslaan veranstalten dampfende Burschen eine etwas verfrühte Schneeballschlacht, ihre heiseren Rufe haben kein Echo. Auf dem Boulevard geht er, am Sportzentrum vorbei, durch das Wäldchen an der Reelaan, und schon ist er auf dem Langekampweg. Flockenwirbel rings um die hohen Straßenlampen, nur das Knirschen unter seinen Sohlen und eine gedämpfte Stille, die in Anbetracht der Tausenden von aufschlagenden Schneeflocken kaum Stille sein kann.
Dort liegt es, das Bauernhaus, sein Bauernhaus, weiß gedeckt, geduldig, allen Lebensumständen gewachsen. Schmerz zuckt durch sein lädiertes Bein: die Erschöpfung der vergangenen Tage, die Erschöpfung der vergangenen sechs Monate , es schmerzt wie wild, er ist kaputt, er sehnt sich nach einem Glas Wein, nach einer glühend heißen Dusche. Als sie das Haus im Jahr 1985 gekauft haben, hing am Giebel ein glänzendes Holzschild mit dem eingebrannten Schriftzug MON REFUGE, und so passend es auch war: Sobald sie den Kaufvertrag unterschrieben hatten, stellte er eine Leiter an die Fassade, schraubte das selbstgefällige Kitschbrett ab und heizte damit einen Abend lang den offenen Kamin. Während der ersten Jahre musste er sich an die unglaublichen Räumlichkeiten gewöhnen, an den Luxus der Einrichtung; wer hatte bestimmt, dass er hier alt werden durfte, in dieser aristokratischen Auffassung vom Wohnen? Er – dessen Vater in der Bruchbude am Trompetsteeg tot zu Boden gestürzt war.
Tineke hätte ihn gebeten, mit seinen Schneeschuhen hintenrum zu gehen, doch dazu fehlt ihm die Energie. Mit einem Seufzer drückt er die schwere Tür auf, eine ihrer Katzen flitzt zwischen seinen Beinen hindurch nach draußen. Er stampft den Schnee von seinen Schuhen, beschließt, sie doch lieber auszuziehen. Durch die Socken hindurch spürt er die Fußbodenheizung. Seine Skier lehnen unter der Treppe an der Kommode, Janis hat sie für ihn vom Dachboden geholt. Er hebt eine Handvoll Weihnachtskarten von der Fußmatte, geht geräuschlos weiter ins Wohnzimmer, stellt seine Tasche mit Akten zwischen den Zeitungsständer und die große Stehlampe, die ein warmes, sanftes Licht spendet: Nachdem vor drei Jahren in Tinekes Werkstatt eingebrochen worden ist – Beute: eine Bohrmaschine, rund zweihundert Werkzeuge und mehr oder weniger alles, was einen Stecker hat und weggetragen werden kann –, wollte sie unbedingt eine Zeitschaltuhr im Haus haben, die die Lampen bei Einbruch der Dämmerung anmacht, ein Gerät, mit dem er sich nicht beschäftigen will. In einem plötzlichen Anfall von Häuslichkeit zündet er die Weihnachtsbaumlichter an.
Er nimmt einen angebrochenen Roten aus dem Regal neben dem Flaschenschrank, gießt ein Glas voll und lässt sich in die Sofaecke fallen, die müden Füße auf dem Couchtisch. Es kommt nur noch selten vor, dass er hier ganz allein ist. Hundemüde schaut er sich in dem großen, sparsam eingerichteten Wohnzimmer um und bedauert, dass er während der Woche Tineke ihrem Schicksal überlässt. Neben seinen Füßen liegt eine aufgeschlagene Ausgabe des Lifestyle-Magazins Nouveau . Vielleicht findet sie es ja ganz wunderbar, denkt er.
Er zieht den Laptop aus der Tasche und schaltet ihn an. Der Brief. Gleich erledigen, er darf morgen früh nicht zu spät aufbrechen. Am Nachmittag hat er im Ministerium nachgesehen, wie er am nächsten Tag fahren muss, Metz – Nancy – Lyon – Grenoble, praktisch die Strecke nach Sainte Maxime. Er hat vor, auf die Yacht der beiden anzuspielen, wie, weiß er noch nicht, vielleicht auf leicht verdutzte Art? In Val-d’Isère will er jedenfalls der Überbringer guter Nachrichten sein; vorausgesetzt, dass er den richtigen Ton trifft, will er die E-Mail mit Tinekes Vorschlag beenden, Joni im neuen Jahr im Silicon Valley zu besuchen.
Noch ehe er Word hat starten können, ist er bereits eingenickt; wie lange sein Schlummer dauert, weiß er nicht, durch seinen Kopf flitzen Traumfetzen aus Erinnerungen an Erinnerungen, er träumt etwas von einem Jungen mit tiefliegenden Augen, der eine lange Weste trägt. Als er aus dem Schlaf schreckt, fühlt er sich wie gerädert, sein Gesicht ist
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