Bonita Avenue (German Edition)
Szenarios, vielleicht auch nur wegen seiner groben Ausdrucksweise, und währenddessen genoss er den Anblick ihres offenstehenden ziegelroten Munds, des Speichelfadens, der sich hinter ihren schmalen, gealterten Zähnen spannte. Ihre weisen pistaziengrünen Augen starrten fassungslos geradeaus – aber sie fing sich. «Der Champagner wird nicht geöffnet, nein», sagte sie. «Aber …»
«Sigerius würde wahnsinnig werden», unterbrach er sie rabiater, als er es beabsichtigt hatte. «Total ausflippen. Siem Sigerius, der entdeckt, dass sein Augapfel im Internet auf Hure macht?» Er schürzte seine Oberlippe bis an die Nasenlöcher. «Zuerst mir», sagte er, «zuerst schneidet er mir die Kehle durch und dann sich selbst. Wissen Sie, wenn ich hier nicht sicher untergebracht wäre, läge ich jetzt auf dem Grund eines Baggersees. Und er neben mir.»
Sie sah ihn forschend an. Sie dachte nach. Und erst jetzt, acht Jahre später, wusste er, worüber: Sie musste an den toten Sigerius gedacht haben. Aber anstatt ihm zu erzählen, dass niemand mehr lebte, der ihm die Kehle durchschneiden wollte, fragte sie: «Warum haben Sie nicht einfach damit aufgehört?»
Es hatte angefangen zu regnen. Kalte Spritzer fielen auf die Rückseite seines Monitors und auf das Fotopapier auf seinem Schreibtisch. Zitternd streckte er seinen Arm aus und schloss mit einem Stoß das Fenster.
Das war der springende Punkt, in der Tat: Warum hatte er nicht Schluss damit gemacht? Die Antwort wusste er selbst nicht, jedenfalls nicht genau, es war ein Gefüge aus klaren und weniger klaren Motiven, etwas Schlammiges, das der Boden dafür gewesen war, dass er ungeachtet heftiger Anfälle von Schuldgefühlen und Zweifel nicht ans Aufhören gedacht hatte. Weiter, Woche für Woche. Ohne zu lügen, hätte er Haitink mindestens fünf verschiedene Antworten auf diese Frage geben können, Triebfedern, die er von sonnenklar bis im Dunkeln verborgen, von nachvollziehbar bis kaum zu begreifen, von mutig bis feige und umgekehrt sortieren konnte.
Um es hinter sich zu bringen, kramte er die oberflächlichste hervor, ein Motiv für alle Altersstufen: Zaster. Geld. Moneten. Der unvorstellbare Haufen Dollars, den das Ganze einbrachte. Ab dem ersten Tag, als die Website freigeschaltet war, meldeten sich Männer von allen Kontinenten an – er ging jedenfalls davon aus, dass es Männer waren –, und das Geld strömte nur so herein, zuerst Tausende von Dollars, und sehr bald schon Zehntausende, Monat für Monat, und das vier Jahre lang – so viel Geld, dass sie vor lauter Übermut gar nicht wussten, was sie damit anfangen sollten. Zaster, mit dem sie in einem brandneuen Alfa Romeo mit Vollgas zu einer Bank in Luxemburg rasten, Zaster, von dem sie sich klammheimlich eine Luxusyacht kauften, die nie das Mittelmeer verlassen sollte, Zaster, von dem niemand wusste außer ihnen. Für Joni war es ein Traum, der Wirklichkeit wurde, verdammt früh Wirklichkeit wurde. Er kannte sonst keinen, der die Financial Times abonniert hatte. Als sie anfingen, war Joni zwanzig und schon bald im Besitz von Aktien und Optionen. Zu Beginn eines jeden Trimesters betrieb sie Daytrading. «Schlampe», sagte er, als er sie zum ersten Mal in ihrem Studentenwohnheim-Mansardenzimmer im Schneidersitz am Telefon fand, die Zeitungsseite mit den Börsennotierungen vor sich, um vier Uhr nachmittags im Nachthemd, die Rollos runtergelassen, die Teller mit den eingetrockneten Spinatpasta-Resten vom Vortag noch auf dem Fußboden – «musst du nicht mal dringend unter die Dusche?» Sie roch wunderbar nach Nacht. «Ich hab heute schon sechstausend Mäuse verdient», sagte sie, ohne aufzuschauen. «Und du?» Als er sie bei ihrer ersten Verabredung gefragt hatte, warum sie Technische Betriebswirtschaftslehre studiere, hatte sie nicht wie die meisten Mädchen im ersten Semester geantwortet, sie wolle «später mal was mit Menschen in einem Unternehmen» machen, sondern sie wolle «möglichst schnell ausgesorgt» haben. Er hatte laut aufgelacht und gemeint, das sei nicht ihr Ernst, aber es war ihr Ernst, «auf der Haushaltsschule lernt man Haushalten, in der Tanzschule lernt man Tanzen, und in Technischer Wie-hab-ich-ausgesorgt-Lehre», sagte sie lächelnd, «lernt man, wie man es schafft, dass man schnellstmöglich ausgesorgt hat.» Und später wollte sie genau das tun, Joni Sigerius hatte vor, eine eigene Firma zu gründen, sie an die Börse zu bringen und den Laden vor ihrem vierzigsten Geburtstag zu
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