Bonita Avenue (German Edition)
als die beiden im Wohnzimmer ihre Taschen abstellten. Sie hatten ihn begrüßt und dann auf der großen Couch ihm gegenüber Platz genommen, woraufhin sich der neue Roombeek-Alltag zu etablieren begann: Er lauschte ihren Feuerwerksgeschichten und sie den seinen – und währenddessen pochte es in seinem Kopf: Oder ist sie es doch?
«Selbst wenn es schlimmer ist, als du gedacht hast», hört er Aaron sagen, «dann weißt du anschließend zumindest, worüber du dir den Kopf zerbrichst. Aber es wird schon nicht so schlimm sein. Ich fand es halb so schlimm.»
«Halb so schlimm?» Joni schüttelt den Kopf und pult weiter. «Du wolltest dir doch einen Judoanzug kaufen. Mach das mal. Anstatt hier den Psychologen zu spielen.»
Sigerius setzt sich in Bewegung. Schluss mit dem Observieren. Schon seit fünf Tagen observiert er seine Tochter. Wie ein Anthropologe beobachtet er sie, nein, wie ein Inquisitor. Oft, so wie jetzt, bemerkt er nichts Besonderes: Da sitzt sie, Joni, mitgenommen von der schrecklichen Geschichte dieses Ennios, und spiegelt doch nur ihre eigene Verletzlichkeit. Trotzdem. Wenn er ihr auf dem Treppenabsatz oder auf dem Weg neben dem Bauernhaus entgegenkommt oder sein Blick, wie vorhin, auf sie fällt – bei jeder neuerlichen Begegnung ist ihm, als bekäme er eine Ohrfeige. Bei jedem neuerlichen Wiedersehen erkennt er, was ihm bei dem Empfang zum ersten Mal ins Auge sprang: eine nervenaufreibende Ähnlichkeit. Er stößt die Wohnzimmertür auf, sucht Aarons Blick und sagt: «Natürlich kaufst du dir keinen neuen Judoanzug. Komm mit.»
Die Ironie besteht darin, dass er sich zum Internet bekehrt hat, weil es ihm eine sichere Alternative zu sein schien. Bis vor kurzem noch dachte er: Ist doch alles besser als der Schlamassel vor anderthalb Jahren.
Angefangen hatte das Ganze beim Empfang anlässlich der Verabschiedung von Jaap Visser: seit Anfang der achtziger Jahre Leiter des Referats für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, ein Mann, der gut zehn Jahre zu lange an seinem Posten geklebt hatte und mit dem er, gleich nachdem er Rektor geworden war, kurzen Prozess hätte machen müssen. Er hielt eine freundliche, knappe Ansprache. Der Empfang fand im großen Saal der Bastille statt, einem fensterlosen, dunklen Backsteinraum mit matten Messingtellern an den Wänden, wo er sich am Kopf der massiven Theke mit Vlaar, seinem Sprecher, und vier Kollegen aus der Verwaltung unterhalten hatte. Und stets war dieselbe Kellnerin vorbeigekommen, eine zierliche Asiatin mit einem offenen, attraktiven Gesicht, die ihm jedes Mal, wenn sie ihm von ihrem Tablett einen Weißwein oder ein Wasser reichte, kurz, aber tief in die Augen sah. Sie sah ihn an, als hätte sie ihm etwas Neckisches erzählt und wartete nun auf seine Reaktion.
Gegen sieben, noch begann sich die Reihe der Gäste nicht zu lichten, fand er, dass er lange genug geblieben war. Er ging zum anderen Ende des Saals, wo Visser und dessen Frau von drei schüchternen Söhnen und ein paar ehemaligen Kollegen umringt wurden. Er schüttelte kräftig ein paar Hände, wünschte dem Mann alles Gute und versuchte, ohne irgendwo hängenzubleiben, zum Ausgang zu gelangen. Die junge Frau stand an der Theke und spülte Gläser. Er schlang sich den Schal um den Hals, schob einen Arm in seinen Mantel und spürte, dass sie ihn ansah. «Moment», sagte sie, als er ihren Blick erwiderte.
Später, als sie nicht genug davon bekamen, diese erste Begegnung zu analysieren, erzählte er ihr, dass sie in seiner Erinnerung nicht etwa um die Theke herumgegangen, sondern wie eine Zeichentrickfigur darüber hinweggesprungen sei, worauf sie sagte, sie werde nicht gern mit einer Comicfigur verglichen.
«Erkennst du mich nicht wieder?» Dunkelbraune Augen, in denen kupferfarbene Einsprengsel aufflammten, sahen ihn ein wenig von unten an, besonders groß war sie nicht, aber schlank, und jetzt, da sie genau vor ihm stand und er ihr hochgestecktes pechschwarzes Haar riechen konnte, kam sie ihm überhaupt nicht wie eine Comicfigur vor. Es war lange her, dass er so nahe vor einer jungen, ihm unbekannten Frau gestanden hatte.
«Hilf mir auf die Sprünge», sagte er.
«Nein, das wäre zu einfach. Denk nach.»
«Lass mich raten: Du bist im Vorstand vom Studierendenausschuss.» Er wusste, dass das nicht der Fall war, aber er meinte, diese Bemerkung könne zumindest als Kompliment aufgefasst werden.
«In zwei Jahren vielleicht. Denk nach.»
Er schaute auf seine Uhr und sagte, er werde zu Hause
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