Bonjour Tristesse
vergingen. Ich vergaß ein
wenig Anne und meinen Vater und Elsa. Die Liebe machte mich freundlich und
ruhig, ich lebte, mit offenen Augen, in einer anderen Welt. Cyril fragte mich,
ob ich nicht Angst hätte, ein Kind zu bekommen. Ich sagte, daß ich mich ganz
auf ihn verließe, und er schien das völlig natürlich zufinden. Vielleicht hatte
ich mich ihm deshalb so leicht gegeben, weil er mir das Gefühl gab, daß ich für
nichts verantwortlich sei. Wenn ich ein Kind bekommen hätte, wäre er der
Schuldige gewesen. Er übernahm das, was ich nicht ertragen hätte: die
Verantwortung. Außerdem sah ich mich einfach nicht als werdende Mutter, mit
diesem harten, mageren Körper, den ich hatte. Zum erstenmal war ich froh über
meine Knabenhaftigkeit.
Aber Elsa wurde ungeduldig. Sie
überhäufte mich mit Fragen. Ich hatte immer Angst, mit ihr oder Cyril
überrascht zu werden. Sie richtete es so ein, daß sie meinem Vater ständig
begegnete und ihm überall in den Weg lief. Dann wiegte sie sich im Glück
eingebildeter Siege und seiner, wie sie meinte, nur mangelhaft unterdrückten
Leidenschaft. Ich sah mit Staunen, wie dieses Mädchen, dessen Beruf es hart an
die Grenze der käuflichen Liebe gebracht hatte, so romantisch wurde, so
empfänglich für die Kleinigkeit eines Blickes, einer Bewegung — sie, die der
knappen Sachlichkeit eiliger Männer ihre Erziehung verdankte. Es ist wahr, daß
sie nicht daran gewöhnt war, die raffinierte Frau zu spielen, und ihre jetzige
Rolle mußte ihr als der Höhepunkt psychologischer Spitzfindigkeit erscheinen.
Wenn mein Vater allmählich von dem
Gedanken an Elsa besessen wurde, so schien Anne nichts davon zu bemerken. Er
war besorgter und zärtlicher denn je, und das machte mir Angst, weil ich sein
Verhalten unbewußten Gewissensbissen zuschrieb. Die Hauptsache war, daß
innerhalb der nächsten drei Wochen nichts passierte. Wir würden nach Paris
zurückkehren, Elsa auch; und wenn sie bei ihrem Entschluß blieben, würden mein
Vater und Anne heiraten. Cyril wäre in Paris, und so wenig wie Anne mich hier
daran hindern konnte, ihn zu lieben, würde sie mich in Paris hindern können,
ihn zu sehen. In Paris hatte er ein eigenes Zimmer, er wohnte nicht bei seiner
Mutter. Ich sah es vor mir: das offene Fenster, den blaurosa Himmel, diesen
Himmel, den es nur in Paris gab, die gurrenden Tauben auf den Dachrinnen und
Cyril und mich auf dem schmalen Bett...
SIEBENTES KAPITEL
E inige Tage später erhielt mein Vater
ein paar Zeilen von einem unserer Freunde, der ihn aufforderte, ihn in St.
Raphael zu einem Aperitif zu treffen. Er erzählte uns gleich davon und schien
sehr froh, der freiwilligen und etwas gezwungenen Einsamkeit, in der wir
lebten, auf ein paar Stunden zu entkommen. Ich teilte daraufhin Elsa und Cyril
mit, daß wir um sieben Uhr in der »Bar du Soleil« sein würden.
Unglücklicherweise kannte Elsa den betreffenden Freund, und das verstärkte
ihren Wunsch zu kommen. Ich sah gewisse Komplikationen voraus und versuchte,
sie davon abzuhalten. Aber es war umsonst.
»Charles Webb betet mich an«, sagte sie
mit kindlicher Einfalt. »Wenn er mich sieht, wird er Raymond bestimmt mit allen
Mitteln überreden, wieder zu mir zurückzukehren.«
Cyril war es völlig gleichgültig, ob er
nach St. Raphael ging oder nicht. Die Hauptsache für ihn war, dort zu sein, wo
ich war. Ich sah es an dem Ausdruck seiner Augen, und ich konnte nicht umhin,
stolz darauf zu sein.
Wir brachen also am Nachmittag gegen
sechs Uhr auf. Wir fuhren in Annes Auto. Ich liebte ihren Wagen. Es war ein
schweres amerikanisches Kabriolett, das mehr ihren Repräsentationspflichten als
ihrem Geschmack entsprach. Dagegen entsprach es dem meinen: voll von
glitzernden Gegenständen, leise, eine Welt für sich, und fast zu weich in den
Kurven. Noch dazu saßen wir alle drei vorn, und nirgends empfand ich so viel
Freundschaft für andere Menschen wie in einem Auto. Alle drei vorn, die
Ellenbogen eng aneinandergedrückt, erlebten wir die gleichen Freuden:
Schnelligkeit und Wind — und vielleicht den gleichen Tod. Anne chauffierte, wie
um zu versinnbildlichen, daß wir bald eine Familie sein würden. Ich war seit
jenem Abend in Cannes nicht mehr in ihrem Wagen gefahren, und das machte mich
nachdenklich.
In der »Bar du Soleil« trafen wir
Charles Webb und seine Frau. Er beschäftigte sich mit Theaterreklame, seine
Frau damit, das Geld, das er verdiente, wieder auszugeben, und zwar mit
atemraubender Geschwindigkeit und für
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