Bony und die weiße Wilde
ich nie gekommen.« Sie lief einige Minuten schweigend neben ihm her. Dann sagte sie plötzlich: »Ich hatte mir immer gewünscht, einmal das Große Barriereriff besichtigen zu können - und andere Sehenswürdigkeiten. Aber das wird wohl nie werden.«
»Man soll doch nicht so pessimistisch in die Zukunft blicken«, meinte Bony lächelnd.
»Ach, ich gebe mich keinen Illusionen hin. Ich habe mir einmal auf dem Jahrmarkt in Timbertown aus der Hand lesen lassen. Die Frau prophezeite mir, daß ich niemals eine weite Reise machen, sondern immer zu Hause bleiben und als alte Jungfer sterben würde. Glauben Sie an Chiromantie?«
»Nein«, antwortete Bony, verschwieg aber wohlweislich, daß er seinerseits etwas von Fußspuren hielt - allerdings nicht, was die Zukunft, sondern was die Vergangenheit anbelangte.
Sie gelangten zu einem Riff und begannen, Teds Felsen von der Strandseite her zu erklimmen. Sadie nahm den Weg zu dem flachen und verwitterten Plateau. Es lag ungefähr sechzig Meter hoch. Von hier aus sah die See genauso glatt aus wie das Wasser der Lagune. Die Brandung lief träge gegen das Fundament von Teds Felsen, und nur wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, wie die Wellen hochauf schäumten.
»Da unten müssen tiefe Höhlen sein«, meinte Bony. »Das Wasser flutet nur langsam zurück. Matt sagte mir, daß bei einsetzender Flut ein gewaltiger Brecher kommt. Haben Sie eine Ahnung, wodurch dieser Brecher zustande kommt?«
»Hm, Jeff ist der Ansicht, daß die unterhalb des Wasserspiegels liegenden Felsbarrieren die Ursache sind. Wenn bei beginnender Flut die Wellen landeinwärts laufen, dann pressen diese Felsen wie gewaltige Arme die Wassermassen zu einer gigantischen Woge zusammen. Ich habe auch noch andere Theorien gelesen, aber Jeffs Erklärung scheint mir am einleuchtendsten. Und nun machen Sie am besten das Angelgerät fertig.«
Bony befestigte die Spinnrolle an der Rute, zog die Schnur durch die Laufringe und knüpfte mit geübten Griffen Vorfach und Haken an. Sadie beobachtete jede seiner Bewegungen kritisch, hatte aber nichts auszusetzen. Als er die zweite Rolle aus dem Beutel nahm und die andere Angelrute ebenfalls fertigmachen wollte, wehrte sie ab.
»Fischen Sie, ich werde aufpassen. Von dort aus können Sie werfen.« Sie wies hinab zu einem Felsvorsprung. »Wenn der Fisch müde ist, gehen Sie bis ans Ende, wo die Wand steil abfällt, und ziehen ihn dann hoch. Alles klar?«
»Ja, durchaus.
»Und wenn ich rufe, müssen Sie sofort heraufkommen.«
»In Ordnung.« Diesmal gab sie Bony Gelegenheit, ihr fest in die grauen, braungefleckten Augen zu blicken. Sie hatten den ruhigen und stillen Ausdruck, den man so oft bei Menschen findet, die gewöhnt sind, über weite Flächen, über das Meer oder die Wüste, zu blicken.
Lächelnd nahm Bony die Köderbüchse und begann mit dem Abstieg. Als er sich nach einiger Zeit zu Sadie umblickte, saß sie bewegungslos auf dem Felsen, die Hände im Schoß gefaltet. Sie starrte hinaus auf das Meer. Bony konnte sich nicht e ntsinnen, jemals einer Frau wie ihr begegnet zu sein.
Der Felsvorsprung war breiter, als es vom Plateau den Anschein gehabt hatte. Bony fand einen bequemen Standplatz und führte den ersten Wurf aus. Fünfzehn Meter unter ihm hob und senkte sich das Wasser im Rhythmus der anrollenden Wogen. Die Nylonschnur sank tief, bis sie auslief.
Der Königsfisch trägt seinen Namen zu Recht. Was Kraft und Schnelligkeit im Verhältnis zu seiner Größe anbelangt, läßt er die Forelle als winzigen Goldfisch erscheinen. In voller Geschwindigkeit schluckt er den Köder. Manche Leute behaupten, er schösse mit knapp hundert Stundenkilometern durch das Wasser. Bony nahm einen festeren Standplatz ein, um die Rolle sofort langsam abbremsen zu können. Und dann konnte der Kampf mit dem Fisch beginnen.
Sadie Stark war für ihn eine neue Erfahrung. Bei diesem dritten Zusammentreffen mit ihr gewann er den Eindruck, daß sie sämtliche Bücher der Welt gelesen, daß sie schon seit tausend Jahren gelebt und die Gedanken von zehntausend Männern analysiert hatte. Sie schien überzeugt, daß alle Männer Kinder seien.
Die Ebbe hatte jetzt ihren Tiefstand erreicht, und bevor die Flut einsetzte, gab es eine Pause von einigen Sekunden. Bony erinnerte sich an Matts Warnung, der große Brecher käme nach der Tidenpause hinter der Fronttür herein. Er starrte hinaus auf das Meer. Von hier oben sah die Wasserfläche noch spiegelglatt aus, ruhig und dunkelblau lag sie vor
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