Bony und die weiße Wilde
Außerdem regnet es ja noch gar nicht, und wenn es wirklich zu gießen anfangen sollte, können wir uns immer noch in die Blockhütte zurückziehen. Auf jeden Fall wird es Zeit, daß endlich etwas passiert.«
Etwa eine Stunde, nachdem die Flutwelle hinter Australiens Fronttür eingetroffen war, passierte es dann wirklich. Bony beobachtete gerade, wie die Flut langsam über die Sandfläche bis zu dem Felsen kroch, auf dem er mit Matt am ersten Tag seines Hierseins gesessen hatte, als Lew atemlos meldete, daß das Signal heruntergezogen worden sei.
Der Eingeborene grinste erwartungsvoll, seine schwarzen Augen waren weit geöffnet, und sein künstliches Gebiß leuchtete weiß. Schließlich war die lange Warterei reichlich langweilig gewesen.
»Na, was meinen Sie, Lew? Kommt unser Besucher am Strand oder oben am Kliff entlang?« fragte Bony.
»Über das Kliff. Die Flut steht schon zu hoch, um noch am Strand entlanggehen zu können.«
Obwohl sie darauf vorbereitet waren, strafften sich unwillkürlich Bonys Muskeln. Lew stieß einen überraschten Laut aus, als plötzlich Sadie auf dem Kliff über dem Pfad stand. Sie war ohne Kopfbedeckung und trug derbe Kleidung. Ihr Haar schien eine Spur des blauen Himmels angenommen zu haben. Einige Augenblicke stand sie reglos, als schätze sie ab, wie riskant der Weg am Strand sei, dann hängte sie sich ihren Zeltsack um den Hals, um beide Hände für den Abstieg freizuhaben. Der Sack schien sehr voll zu sein.
»Sie bringt ihm Proviant und Wasser«, flüsterte Lew. »Sie muß Wasser dabeihaben, in diesen Höhlen da unten gibt es keins.«
Sadie bewegte sich äußerst vorsichtig, als sei der Inhalt ihres Zeltsackes sowohl zerbrechlich als auch sehr kostbar. Als sie sich noch ungefähr dreißig Meter über dem Meer und auf halbem Wege zu den einzelnen Felsen befand, die den Strand abschlossen, blieb sie erneut stehen und blickte die zerklüftete Wand entlang in die Richtung, wo sich die beiden Männer befanden.
»Was hat sie vor?« flüsterte Lew. »Sie muß doch erst ganz hinuntergehen und dann wieder etwas in die Höhe klettern, um zu den Höhlen zu gelangen.« Er pfiff verwundert durch die Zähne, als Sadie weder hinunterstieg noch sich in ihre Richtung wandte. Sie verließ den bekannten Pfad, kletterte über einen Felsvorsprung und entfernte sich dann anscheinend mühelos in der entgegengesetzten Richtung nach dem Felsüberhang zu.
»Dort drüben kenne ich keine Höhlen«, murmelte Lew. “Und Fred auch nicht. Wir haben ausführlich über diesen Kliffabschnitt gesprochen.«
»Sie scheint sich auf einer schmalen Felsterrasse zu befinden«, bemerkte Bony. »Parallel zum Strand.«
Sadie bewegte sich nun völlig sicher. Sie passierte den überhängenden Felsen, ging noch einige Meter weiter und verschwand in der Kliffwand.
20
Klatschend schlug die Brandung gegen den mit Steinen übersäten Strand. Dunkel und abweisend lag Australiens Fronttür im grauen Licht des wolkenverhangenen Tages.
Nach Lews ledergeschützter Armbanduhr war Sadie um dreizehn Uhr dreiundfünfzig in der Kliffwand verschwunden. Nicht, daß Bony sich so sehr für die genaue Zeit interessiert hätte. Zuerst vergingen die Minuten schnell, dann immer langsamer. Die Flut wartete nicht auf Sadies Rückkehr, und schließlich war der gesamte Strand überspült.
»Gleich zwanzig vor vier«, sagte Lew nach einem erneuten Blick auf seine Armbanduhr. »Jetzt muß sie den ganzen Nachmittag bei Marvin bleiben.«
Zehn Minuten vor fünf sagte Lew mit einer Ungeduld, die für einen Eingeborenen sehr ungewöhnlich war: »Vielleicht gibt es noch einen anderen Rückweg.«
»Ich glaube nicht, daß man auf einem anderen Weg leichter heraufkommen kann als auf dem Pfad, den Sadie benützt hat, Lew. Also Geduld. Da, sehen Sie!«
Sadie erschien auf der schmalen Terrasse unter dem überhängenden Felsen. Ihr Zeltbeutel war leer, und sie beeilte sich, die gefährliche Stelle zu passieren und über den schmalen Pfad das Plateau des Kliffs zu erreichen. Gleich darauf war sie ihren Blicken entschwunden.
Lew musterte Bony mit zusammengezogenen Brauen. Der Inspektor starrte unverwandt nach der Stelle, an der das Mädchen wieder aufgetaucht war.
Marvin Rhudder hingegen ließ sich nicht sehen. Nachdem Bony lange genug gewartet hatte, entschloß er sich zum nächsten Schritt. Zunächst vergewisserte er sich durch einen Blick zum Hügel, daß sich das Signal in der Ausgangsstellung befand, die Bahn also frei war. Dann ließ er sich
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