Bony und die weiße Wilde
von Lew noch einmal die genaue Zeit sagen. Er hoffte, daß der drohende Sturm erst in zwölf Stunden einsetzen würde.
»Bei Tageslicht wird Marvin sich nicht trauen, herauszukommen, Lew. Wahrscheinlich erst im Dunkeln, und dann wird er die Taschenlampe benützen wie in der vorvorigen Nacht. Wir werden unser Lager näher zu der Stelle verlegen, an der er das Plateau erreichen muß. Dort lauern wir ihm dann auf und legen ihm die Handschellen an, die ich mir von Sergeant Sasoon geben ließ.«
»Ganz einfach«, meinte Lew, und seine Augen glühten in Vorfreude auf.
»So einfach ist es durchaus nicht«, widersprach Bony. »Bei Marvin müssen wir äußerst vorsichtig sein. Wir können uns nicht einfach auf ihn stürzen und damit riskieren, daß er uns vielleicht in der Dunkelheit entkommt. Zunächst verlegen wir jetzt unser Lager.«
Sie richteten sich in dem Teestrauch ein, in dem seinerzeit der geheimnisvolle Unbekannte verschwunden war. Bony postierte sich vorn an der Kliffkante, zwei Meter von der Stelle entfernt, wo Sadie das Plateau erreicht hatte. Lew sah sich inzwischen nach einem entsprechenden Stück Holz um, das sich als Knüppel verwenden ließ. Sie machten aus, daß Bony, sobald Marvin die Klippe erreichte, den Verbrecher an den Beinen packte, und Lew ihn durch einen Schlag auf den Kopf außer Gefecht setzte.
»Schlagen Sie aber nicht zu kräftig zu«, redete Bony Lew ins Gewissen. »Vergessen Sie nicht, daß er an den Galgen soll. Aber treffen Sie auch nicht daneben - obwohl es geradezu eine Beleidigung ist, Ihnen das zu sagen. So, und nun wollen wir kein Wort mehr reden.«
Die Nacht verrann, und nichts deutete darauf hin, daß das Untier sein Lager verlassen hatte. Als der neue Tag gelblichgrau heraufdämmerte, war Lew eingeschlafen. Nun entschloß Bony sich, aktiv zu werden. Da Marvin nicht heraufgekommen war, wollte er selbst zu ihm hinuntersteigen, bevor damit zu rechnen war, daß der Flüchtige aufwachte. Gewiß, das war nicht ohne Risiko, aber was war nicht riskant unter den gegenwärtigen Umständen?
Klüger würde es natürlich sein, Lew loszuschicken, um mit Gewehren bewaffnete Verstärkungen zu holen und diesen Teil des Kliffs hermetisch abzuschließen. Dann mußte Marvin Rhudder entweder verhungern und verdursten oder sich ergeben.
Aber nur ein Narr konnte hoffen, daß Marvin sich ohne Widerstand ergeben würde, daß er unbewaffnet war und nicht intelligent genug, um sich Höhlen zum Unterschlupf auszusuchen, die gewiß geheime Hinterausgänge hatten. Und wenn er sich bei einem Fluchtversuch in den steilen Felsen das Genick brach, würde man dies Inspektor Bonaparte gewiß nicht als Verdienst anrechnen.
Bony weckte Lew. Sie frühstückten und tranken einige Schluck Wasser. Anschließend führte Bony den Eingeborenen ein paar Meter weiter an eine Stelle, an der ein großer Stein lag. Ihn sollte Lew hinabpoltern lassen, falls man vom Hügel herüber >Gefahr< signalisierte. Und sollte er - Bony -nicht bis Mittag zurück sein, hatte Lew sofort Breckoff Meldung zu machen und Verstärkung mitzubringen.
Vorsichtig kletterte Bony über die Kliffkante und begann mit dem langsamen Abstieg, wobei er vor allem darauf bedacht war, daß sich kein Steinchen löste, da dies eine ganze Steinlawine zur Folge haben konnte. Bony hielt eine Pistole in der Rechten, und aus seiner Hüfttasche ragte eine starke Taschenlampe. Die Handschellen hatte er bei Lew zurückgelassen. Falls er sie brauchte, konnte Lew sie hinunterbringen. Bony war fest entschlossen, Marvin sofort durch einen Schuß ins Bein aktionsunfähig zu machen, wenn er ihm nur die geringste Möglichkeit dazu gab.
Als er an die Stelle gelangte, wo Sadie den Pfad verlassen hatte, sah er, daß der überhängende Felsen die schmale Felsterrasse verdeckte. Er bewegte sich jetzt mit äußerster Vorsicht, um auf dem schlüpfrigen Gestein nicht auszurutschen. Ein Stück weiter verbreiterte sich die Terrasse, und der vom Wind angewehte Sand lag ziemlich hoch. Sadies Fußspuren waren deutlich zu erkennen.
Bony blickte zu Lew hinauf. Hoffentlich schaute der Neger zuerst einmal herab, bevor er den Steinbrocken über den Kliffrand schob, falls Gefahr im Verzüge war. Im Moment sah Bony nichts weiter als eine schwarze Hand, die ihm zuwinkte.
Schließlich gelangte er unter den überhängenden Felsen. Hier war der Felssims noch rund vierzig Zentimeter breit. An einem Vorsprung blieb er stehen, um nach dem schnellen Abstieg zu verschnaufen, und außerdem wollte
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