Bookman - Das ewige Empire 1
Orphan den Premierminister nie aus der Nähe gesehen hatte,
erkannte er sein Gesicht sofort wieder â den kahlen, nach oben gewölbten
Schädel, die tief liegenden Augen, den strengen und zugleich sinnlichen Mund.
Das war ein Mann von groÃen Fähigkeiten, ein angesehener Dichter und begnadeter
Administrator, kurzum, der Mann, der praktisch das Empire regierte. Während er
Orphan mit seinen dunklen Augen musterte, zuckte ein Lächeln um die Mundwinkel
des Premierministers.
»Bitte setzen Sie sich«, forderte Moriarty ihn auf. Er hatte eine
angenehme, ein wenig hohe Stimme. Orphan nahm auf dem Stuhl gegenüber dem
Schreibtisch Platz. Das warâs dann also, dachte er. Da das Zimmer keine Fenster
hatte, konnte Orphan die Schreie der Möwen nicht mehr hören. Tiefe,
beunruhigende Stille lag wie eine dicke Decke über dem Raum.
»Sie sind also der geheimnisvolle Saboteur«, fuhr Moriarty fort.
»Der Möchtegernsaboteur, sollte ich wohl eher sagen.«
Orphan gab keine Antwort. Moriarty zuckte die Achseln. »Machen Sie
sich nichts draus«, sagte er. »Es war äuÃerst leicht, den Weg, der Sie hierher
geführt hat, zu deduzieren. Dass Sie in den Tunneln Zuflucht gefunden haben,
lag nahe, sonst hätte man Sie schon früher erwischt. Ebenso nahe lag, dass Sie
die Abwehrmechanismen der Insel nur wegen Ihres Bluts überlebt haben â und wie
mir meine Leute mitgeteilt haben, sind Sie in der Tat der rechtmäÃige Thronerbe â¦Â« Als er bemerkte, wie Orphan entsetzt die Augen aufriss, hielt er inne.
»Wussten Sie das nicht?«
»Ich â¦Â« Ihm fehlten die Worte. Mit den früheren Königen verwandt zu
sein war eine Sache, aber dies �
»Sie sind, wie man mir berichtet hat, der einzige Enkelsohn von
Catherine und Bertram. Folglich sind Sie der erste Thronanwärter â wenn es
einen Thron zu besteigen gäbe, William.« Die bisherige Freundlichkeit
verflüchtigte sich aus Moriartys Gesicht. »Wenn es ihn gäbe.«
Der König von England. Orphan hätte beinahe laut herausgelacht.
»Es war auch leicht zu deduzieren, dass Sie bald etwas unternehmen
und den Aufzug benutzen würden, um in den Krater zu gelangen. Ãbrigens kann ich
Sie beruhigen. Dem Soldaten, den Sie niedergeschlagen haben, geht es bestens.«
»Sie haben mich also erwartet?«, entgegnete Orphan.
Moriarty zuckte die Achseln. »Selbstverständlich. SchlieÃlich
begegnet man nicht alle Tage einem König in Bereitschaft. Der überdies Dichter
ist, wie ich gehört habe. Ich glaube, ich habe sogar schon etwas von Ihnen
gelesen. In der Review . Kann das sein?«
»Nun ja â¦Â«, erwiderte Orphan. Er hatte tatsächlich schon mehrere
Gedichte in der Poetic Review veröffentlicht, aber â¦
» Eine Zwei-Pence-Münze findâ ich im Schlamm,
erblickâ das Profil einer fremden Monarchin, mit schlaffem Mund, den Blick in
die Ferne gerichtet â¦Â«, zitierte Moriarty. »Etwas in dieser Art? Ich
kann mich durchaus an Sie erinnern, Orphan. Ich war immer der Ansicht, dass Sie
das Zeug zu einem groÃen Dichter haben. Zu schade, dass Sie sich für ein
Abenteurerleben entschieden haben. Die besten Gedichte entspringen nämlich,
denke ich, einem Leben, das absolut langweilig verläuft.«
Die dunklen Augen Moriartys starrten ihn durchdringend an. Orphan
kam sich wie ein Buch vor, das der Premierminister durchblätterte, dessen
Inhalt aber nur von vorübergehendem Interesse war. Als hätte er seine Gedanken
gelesen, griff Moriarty nach dem Buch, das auf seinem Schreibtisch lag. »Bibelgeschichten für junge Leser?« , sagte er in fragendem
Ton und schlug das Buch auf. Erst jetzt fiel Orphan auf, dass es etwas seltsam
Vertrautes an sich hatte. Format und Einband meinte er schon einmal gesehen zu
haben. »Das Buch des Bookman«, sagte Moriarty. »Wirklich clever â¦Â« Er seufzte
und blätterte die leeren Seiten durch. »Es ist schwierig, ein Empire zu
regieren, wenn die Herren dieses Empire so gut wie nichts von ihrer eigenen
Technologie begreifen«, fuhr er fort. »Ich habe oft gewünscht, wir hätten mit
dem Bookman zusammenarbeiten können. Ja«, sagte er, während er den überraschten
Orphan anlächelte. »Ich weiÃ, was er ist und was er vorhat. Er ist der Diener
der Lézards und ihr Wissensspeicher. Zugleich ist er Revolutionär â
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