Books & Braun: Das Zeichen des Phönix (German Edition)
vorzugehen. Und da diese Frau immerhin einen Mann aus den eigenen Reihen eliminiert hatte, war Heimlichkeit besonders angebracht.
Bedächtig tastete sie die Seiten ihres Rockes ab: darunter trug sie die kleinen, kompakten 1881er Derringer-Pistolen, eine an jedem Schenkel. Für einen flüchtigen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, die Phönixloge zu stürmen – aber sie wusste, dass das im Alleingang äußerst töricht wäre.
Zudem stellte sie sich Dr. Sounds Reaktion vor, sollte sie die ach so ehrenwerten Mitglieder der Londoner Oberschicht ohne irgendwelche Beweise belästigt haben – dieser Gedanke erstickte ihren üblichen Hang zu vorschnellem Handeln. Bedauerlicherweise war Books nicht zugegen, um ihre Zurückhaltung zu bewundern.
Nein, befand Eliza, es war das Beste, diese Leute zu identifizieren, möglichst den Hauptverdächtigen zu verfolgen und herauszufinden, wo er in London wohnte, und dann zu beobachten, wer bei ihm ein und aus ging, um auf diese Weise die Identität der übrigen Verschwörer zu ermitteln. »Im Zweifel«, flüsterte Harrys Stimme in ihrem Kopf, »kehr zurück zum Wesentlichen.«
Doch wenn Eliza tatsächlich zum Wesentlichen zurückkehrte, würde sie dieses Miststück gewiss nicht nur verfolgen. Sie hätte hier und jetzt ihr Stilett gezückt und ihren gefallenen Partner und Freund gerächt.
Diese elenden Opernhäuser! Hier war es genau wie in der Mailänder Scala: viel zu viele Ein- und Ausgänge. Mit einem prüfenden Blick nach links und rechts den Korridor entlang vergewisserte sie sich, dass das Interesse der anderen Logengäste der Oper galt – ihrer Meinung nach ein deutliches Zeichen für die weit verbreitete Debilität unter den Aristokraten.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Eliza einen Schatten. Sie erstarrte, hielt den Atem an und sah gerade noch, wie die Italienerin hinter einer Tür mit der Aufschrift »Zu den Garderoben« verschwand. Fünf Sekunden – mehr Zeit gab sie Harrys Mörderin nicht, dann schlüpfte sie ebenfalls durch diese Tür, in den Händen die beiden Messer, auf die Wellington bereits in der Loge einen Blick erhascht hatte.
Der laute Chorgesang, der sie empfing, haute sie beinahe um. Es war ungeheuer schwer, einzelne Geräusche herauszuhören, und der Tumult auf den Seitenbühnen lenkte sie zusätzlich ab. So nah am Operngeschehen konnte Eliza dem Lärm unmöglich ausweichen, und die Musik nahm gerade wieder Anlauf zu einem Crescendo. Die Bühnenarbeiter beobachteten den Fortschritt der Szene mit Argusaugen, allzeit bereit, den Vorhang herunterzulassen. Vor ihr warteten Chorsänger mit Waffen und grün belaubten Zweigen aufs Stichwort, um nach und nach die Bühne zu betreten und ihren Platz im musikalischen Geschehen einzunehmen. Eliza senkte den Kopf und bemühte sich, den Anschein einer einfachen Schauspielerin zu erwecken – kein leichtes Unterfangen, wenn man ihr Kleid und ihren Schmuck bedachte.
Glücklicherweise war wohl kaum jemand da, der einen Moment erübrigen konnte, um sich daran zu stören.
Jählings wurde Eliza am Schopf gepackt und unwirsch herumgerissen. Sie war dermaßen überrumpelt, dass sie sogar die Messer fallen ließ. Bei diesem Angreifer konnte es sich unmöglich um einen Inspizienten handeln: der Griff war dafür viel zu selbstsicher, zu versiert. Mit einer geduckten Drehung gelang es Eliza sich loszureißen, und schon stand sie von Angesicht zu Angesicht einer adrett gekleideten Frau gegenüber, die mindestens einen Kopf kleiner war als sie. Ein hübsches, von dunklen Locken umrahmtes Gesicht mit südländischem Teint lächelte sie an – jedoch nicht zum Gruß. Vielmehr flammte in den Augen der Frau freudige Erregung auf, gepaart mit einem Hauch Empörung und einem Schuss Provokation. Eliza hatte das Gesicht der Attentäterin vor der Arztpraxis zwar nicht sehen können, aber Instinkt, Erfahrung und der Griff, mit dem sie ihre Haare gepackt hatte, untermauerten ihren Verdacht. Signora Sophia del Morte gehörte zu der Sorte Frau, die ohne Weiteres jeden Salon Europas zu zieren vermochte: schön anzusehen, hochintelligent und äußerst gerissen – all das und ihr Fachwissen im Umgang mit Dynamit, wie sie es in Dr. Smiths Praxis bewiesen hatte, ergaben eine tödliche Mischung.
Und die Art und Weise, wie Sophia sie angegriffen hatte, sagte Eliza noch etwas anderes: Diese Frau verstand sich keineswegs ausschließlich auf Explosionen. Soll mir recht sein, dachte Eliza abgeklärt. Das trifft auch auf mich zu.
»Ein wenig
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