Boomerang
Literature
[auf Deutsch etwa: »Der Ruf der Natur. Fäkalsprache in der modernen deutschen Literatur«] des Literaturwissenschaftlers Dieter Rollfinke empfohlen.) Bei seinem Besuch in Hamburg interessierte sich der Anthropologe vor allem für das Schlamm-Catchen. Nackte Frauen prügeln sich in einem Schlammbad, und die Zuschauer tragen Badekappen, um sich nicht schmutzig zu machen. »So kann das Publikum den Schmutz genießen und bleibt selbst sauber«, schreibt Dundes. Das trifft auch ungefähr die Rolle der Deutschen in der Eurokrise.
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Eine Woche zuvor hatte ich mich in Berlin mit Jörg Asmussen, dem 44-jährigen Staatssekretär im Finanzministerium, getroffen. Deutschland ist heute das einzige Land der entwickelten Welt, das keine Angst haben muss, dass seine Wirtschaft zusammenbricht, wenn Investoren seine Anleihen nicht mehr kaufen. Während in Griechenland die Arbeitslosigkeit inzwischen ein neues Rekordhoch von 16,2 Prozent erreicht hat, ist sie in Deutschland auf ein Zwanzig-Jahres-Tief von 6,9 Prozent gesunken. Die Deutschen scheinen die Finanzkrise ohne größere wirtschaftliche Folgeschäden überstanden zu haben. Sie haben einfach ihre Badekappen aufgezogen, um nicht besudelt zu werden, während sich ihre Banker im Schlamm wälzten. Daher beobachten die Finanzmärkte die Deutschen seit gut einem Jahr mit Argusaugen, aber bislang, ohne sie |162| durchschaut zu haben: Sie könnten es sich vermutlich leisten, für die Schulden der übrigen Europäer geradezustehen, aber werden sie das auch? Sind sie jetzt Europäer, oder immer noch Deutsche? Jede Äußerung von Mitgliedern der Bundesregierung zu diesem Thema brachte die Börse zum Beben – und es wurde vieles geäußert. Die meisten Politiker schlossen sich lediglich der öffentlichen Meinung an und brachten ihr Unverständnis und ihren Zorn über die Verantwortungslosigkeit der übrigen Europäer zum Ausdruck. Asmussen ist einer der Politiker, denen die Presse jedes Wort von den Lippen abliest. Er und Finanzminister Wolfgang Schäuble nehmen an jedem Gespräch zwischen der deutschen Regierung und den Pleitekandidaten teil.
Das Finanzministerium, ein Gebäude aus den dreißiger Jahren, ist ein Monument des Größenwahns und des schlechten Geschmacks der Nationalsozialisten. Der gesichtslose Klotz ist so riesig, dass man zwanzig Minuten benötigt, um wieder zum Ausgang zu finden, wenn man die falsche Richtung eingeschlagen hat. Ich schlage die falsche Richtung ein und laufe dann keuchend und schwitzend zurück. Schließlich gelange ich an einen vertraut wirkenden Innenhof: Der einzige Unterschied zu den historischen Fotos ist, dass Hitler nicht mehr durch die Tür marschiert und die Adler mit den Hakenkreuzen entfernt wurden. »Das war Görings Reichsluftfahrtministerium«, sagt mir der Mitarbeiter der Presseabteilung, seltsamerweise ein Franzose, der bereits auf mich wartet. Dann erklärt er mir, dass das Gebäude deshalb so riesig ist, weil Göring wollte, dass auf dem Dach Flugzeuge starten und landen konnten.
Ich bin drei Minuten zu spät dran, aber der Staatssekretär lässt mich ganze fünf Minuten warten, was in Deutschland |163| schon beinahe als Kapitalverbrechen gilt. Ausgiebiger als nötig entschuldigt er sich für die Verspätung. Mit seiner randlosen Brille erinnert mich Asmussen an einen Regisseur. Er wirkt durchtrainiert und hat kein einziges Haar auf dem Kopf, aber nicht, weil sie ihm ausgegangen wären, sondern aus freien Stücken. Bei durchtrainierten weißen Männern ist der kahlrasierte Schädel meist ein Statement: »Seht her, ich brauche kein Körperfett und keine Haare.« Nebenbei wirkt es, als wollten sie alle, die beides vielleicht doch noch brauchen, als Weicheier abtun. Der Staatssekretär lacht auch genauso, wie man es von einem durchtrainierten Glatzkopf erwarten würde. Statt den Mund zu öffnen und die Luft entweichen zu lassen, schürzt er die Lippen und stößt sie durch die Nase aus. Mag sein, dass er genauso lachen muss wie andere Männer, aber er benötigt weniger Luft dazu. Sein Schreibtisch ist ein Muster der Disziplin. Alles deutet auf rege Betriebsamkeit hin – Schreibblöcke, Post-its, Mappen – aber sämtliche Gegenstände sind in perfekten 90-Grad-Winkeln arrangiert und an den Kanten des Schreibtischs ausgerichtet. Als einziges persönliches Element fällt mir an der Wand neben seinem Schreibtisch ein großes, weißes Schild ins Auge:
»Das Geheimnis des Erfolgs ist,
den Standpunkt des anderen zu
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