Boomerang
größten Wahrscheinlichkeit seine Schulden nicht zurückzahlen würde. Die Deutschen waren nicht nur die wichtigsten Gläubiger der verschiedenen abgebrannten europäischen Nationen, sie stellten außerdem deren einzige Hoffnung auf künftige Kredite dar. Sie waren die moralische Instanz, die entschied, was als Finanzgebaren durchging und was nicht. Wie mir ein führender Mitarbeiter der Bundesbank mitteilte: »Wenn wir nein sagen, dann heißt das nein. Ohne Deutschland geht überhaupt nichts.« Vor einem Jahr, als die |159| Griechen in Deutschland als Betrüger beschimpft wurden, fragten Zeitungen auf der Titelseite, warum die bankrotten Hellenen nicht einfach ein paar Inseln verkauften – für den Griechen auf der Straße eine Beleidigung. Im Juni dieses Jahres begann die griechische Regierung mit dem Verkauf von Inseln, genauer gesagt erstellte sie eine Liste von tausend Objekten, die sich in Staatsbesitz befanden – Golfplätze, Strände, Flughäfen, Äcker, Straßen – und die sie verkaufen wollte, um ihre Schulden zu bezahlen. Die Idee dazu stammte nicht von den Griechen.
Außer den Deutschen selbst kommt vermutlich kaum jemand auf den Gedanken, in Hamburg Urlaub zu machen. Aber da gerade Ferien waren, war die Stadt von deutschen Touristen überlaufen. Als ich den Hotelportier nach Sehenswürdigkeiten fragte, sah er mich an, zögerte ein wenig und meinte dann: »Die meisten gehen auf die Reeperbahn.« Genau deswegen war ich nach Hamburg gekommen.
Vielleicht liegt es an dem Talent der Deutschen, den Nicht-Deutschen immer wieder Schwierigkeiten zu bereiten, dass sich so viele Wissenschaftler bemüht haben, die Deutschen zu verstehen. Aus dieser nach wie vor boomenden und oft sehr ernsthaften Literatur ragt ein Büchlein mit dem witzigen Titel
Life Is Like a Chicken Coop Ladder
(zu deutsch etwa: »Das Leben ist eine Hühnerleiter«) aus Jahr 1984 heraus. Auf seinen wenigen Seiten versucht der Autor Alan Dundes, ein renommierter Anthropologe, dem deutschen Charakter auf die Spur zu kommen, indem er deutsche Geschichten und Schwänke analysiert. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass sich viele Volkserzählungen und Redewendungen um Ausscheidungsprodukte drehen: »Scheiße, Dreck, Mist, Arsch … Volkslieder, Geschichten, Sprichwörter, Rätsel und die Alltagssprache |160| sind Zeugnis des besonderen Interesses der Deutschen an diesem Bereich des menschlichen Verhaltens.«
Um seine Theorie zu untermauern, fährt Dundes eine erschreckende Menge von Beweisen auf. Beispielsweise erwähnt er den »Geldscheißer«, dem, wie der Name andeutet, Münzen aus dem After fallen. In München wurde das erste Nachttopfmuseum Europas eröffnet. Das Wort »Scheiße« kann extrem flexibel eingesetzt werden – beispielsweise galt »mein Scheißerle« früher sogar als Kosewort. Eines der ersten Bücher, das Johannes Gutenberg, der Pionier des Buchdrucks, nach der Bibel druckte, war ein »Laxierkalender«, sprich ein Abführ-Ratgeber. Daneben existiert eine ganze Menge deutscher Sprichwörter und Redensarten, die fäkale Bilder bemühen, zum Beispiel »etwas in die Scheiße reiten«.
Mit auffälliger Besessenheit verfolgte Dundes diese Vorliebe die deutsche Geschichte hindurch. Dem für seine Kraftausdrücke bekannten Martin Luther (»Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz«) soll angeblich die Idee für die Reformation auf dem Topf gekommen sein. Mozarts Briefe verrieten eine »Begeisterung für Fäkalsprache, die ihresgleichen sucht«. Und eines von Hitlers Lieblingswörtern sei »Scheißkerl« gewesen – mit diesem freundlichen Spitznamen bedachte er offenbar nicht nur andere, sondern auch sich selbst. Nach dem Krieg behaupteten Hitlers Leibärzte im Verhör, ihr Patient habe erstaunliche Energie auf die Begutachtung seiner Exkremente verwendet, und angeblich gefiel es ihm, wenn Frauen ihren Darm auf ihm entleerten. Dundes spekuliert, vielleicht sei Hitler den Deutschen deshalb so sympathisch erschienen, weil sie eine Gemeinsamkeit teilten: einen öffentlich zur Schau getragenen Ekel vor allem Schmutz und eine dahinter verborgene private Obsession. »Diese Mischung |161| – außen sauber, innen schmutzig – gehört zum nationalen Charakter der Deutschen«, behauptet Dundes.
Als Anthropologe beschäftigte sich Dundes vor allem mit der Alltagskultur. (Wer sich für die Rolle der Koprophilie in der Literatur interessiert, dem sei das Buch
The Call of Human Nature: The Role of Scatology in Modern German
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