Boomerang
globalen Banken zusammenbrachen, stellten die rund 300 000 Bürger des Landes |25| fest, dass sie für die rund 70 Milliarden Euro Verlust geradestehen mussten – das bedeutet, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind plötzlich rund 230 000 Euro Schulden hatte. Dazu kamen die Zigmilliarden Euro eigener Einbußen aus ihren bizarren privaten Devisenspekulationen und noch größere Verluste aus dem 85-prozentigen Kurseinbruch der Börse. Wie viel die Bürger genau in Euro verloren hatten, lässt sich nicht einmal beziffern, denn auch die Isländische Krone war abgestürzt und von der Regierung aus dem Handel genommen worden, weshalb sich kein Kurs mehr ermitteln ließ. Es war jedenfalls eine ganze Menge.
Über Nacht verwandelte sich Island in das einzige Land der Erde, auf das die Amerikaner mit Fingern zeigen und sagen konnten: »So weit haben wir es denn doch nicht getrieben.« Die Schulden der Isländer betrugen 850 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. (Selbst die hoch verschuldeten Vereinigten Staaten bringen es bislang nur auf schlappe 350 Prozent.) So absurd groß der Anteil der Wall Street an der amerikanischen Volkswirtschaft geworden ist, er ist noch immer nicht so groß, dass ihn die Bürger im Notfall nicht irgendwie heraushauen könnten. Aber jede einzelne der drei isländischen Banken hatte mehr Verluste aufgehäuft, als das Land auffangen konnte; zusammengenommen waren sie derart absurd hoch und unverhältnismäßig, dass in Meinungsumfragen ein Drittel der Bevölkerung angab, über Auswanderung nachzudenken.
In nur drei oder vier Jahren war dieser stabilen, kollektivistischen Gesellschaft eine völlig neue Wirtschaftsform aufgepfropft worden, die das Land dann erdrosselt hatte. »Letztlich waren es nur ein paar dumme Jungs«, meinte der Mann vom IWF. »Mit ihren dunklen Anzügen sind sie in diese auf |26| Gleichheit ausgerichtete Gesellschaft gekommen und haben angefangen, ihre Geschäfte zu machen.«
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Während das Flugzeug zum Terminal rollt, sehe ich am Flughafengebäude das Logo der Landsbanki, neben Kaupthing und Glitnir eine der drei bankrotten isländischen Banken. Ich überlege mir eine Metapher für die zunehmende Zahl der zahlungsunfähigen Geldinstitute der Welt – Wasser, das im Gartenschlauch bleibt, wenn der Hahn abgedreht wird? Doch ich komme nicht allzu weit, denn der Mann im Sitz hinter mir zerrt seine Tasche aus dem Gepäckfach und lässt sie auf mich herunterkrachen. Ich stelle bald fest, dass isländische Männer, ähnlich wie Elche, Böcke und anderes Hornvieh, den Zusammenprall als entscheidenden Teil ihres Überlebenskampfes begreifen. Ich erfahre auch, dass dieser Mann im Sitz hinter mir ein Topmanager der Börse von Reykjavík ist. In diesem Moment weiß ich jedoch nur, dass ein Mittvierziger im teuren Anzug mir scheinbar absichtlich seine Tasche um die Ohren gehauen hat, ohne sich auch nur dafür zu entschuldigen. Mein Zorn über diesen feindseligen Akt legt sich erst an der Passkontrolle.
Man lernt eine Menge über ein Land, wenn man sich ansieht, welche Privilegien es an den Grenzübergängen den eigenen Bürgern zukommen lässt. Die Isländer machen nicht den geringsten Unterschied zwischen sich und Ausländern. Über den Schaltern hängen charmante Schilder mit der Aufschrift »Alle Bürger«, aber damit sind nicht etwa »alle Bürger Islands« gemeint, sondern »alle Bürger von überall«. Und da jeder irgendwoher kommt, stehen wir alle in derselben Schlange vor demselben Fensterchen an. Und bevor ich auch |27| nur »Guten Tag« sagen kann, hat der Beamte so getan, als hätte er meinen Pass inspiziert, und mich auch schon durchgewinkt.
Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt fahre ich durch eine finstere Landschaft von schwarzen Vulkanfelsen, die von feinem Pulverschnee überzuckert sind und aussehen, als könnten sie vom Mond stammen. Das meinten zumindest die Wissenschaftler der NASA, weshalb sie vor dem ersten Mondflug ihre Astronauten hierher schickten, um sich ein wenig einzuleben. Eine gute Stunde später stehe ich in der Empfangshalle des 101 Hotel, das der Frau eines prominenten bankrotten Bankers gehört. Der Name erschließt sich nicht unmittelbar (101 ist die Postleitzahl des reichsten Bezirks von Reykjavík), aber die Möblierung wirkt auf Anhieb vertraut: Es sieht exakt so aus wie in einem der hippen Hotels in Manhattan. Die Mitarbeiter sind schwarz livriert, an den Wänden hängt unverständliche moderne Kunst, auf den Tischchen in der Lobby
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