Boomerang
daran, dass ich ihn einige Stunden zuvor interviewt habe, denn er bleibt kurz stehen und verkündet: »Wir haben ihnen klargemacht, dass wir nicht zahlungsunfähig sind, sondern nur nicht flüssig. Aber sie haben uns nicht zugehört.« Dann schwankt er von dannen. Genau das haben übrigens auch Lehman Brothers und Citigroup |33| gesagt: Gebt uns nur ein bisschen Geld, dann ist dieser kleine Schluckauf gleich vorbei.
Ein Land, das so klein und homogen ist, dass fast jeder jeden kennt, fällt eigentlich schon nicht mehr in die Kategorie »Nation«. Es handelt sich eher um eine Großfamilie. Die meisten Isländer werden beispielsweise bei Geburt automatisch Mitglied der evangelisch-lutherischen Staatskirche. Wenn sie austreten wollen, müssen sie sich an eine Behörde wenden. Und wenn sie ein Formular ausfüllen, können sie ihre eigene Freikirche gründen und haben Anspruch auf staatliche Fördermittel.
Ein anderes Beispiel ist das Telefonbuch von Reykjavík, in dem die Nutzer nach Vornamen sortiert sind. Das liegt daran, dass es in Island nur gut neun Nachnamen gibt, die sich ergeben, indem man »-son« oder »-dóttir« an den Vornamen des Vaters hängt. Ich habe meine Zweifel, ob das die Sache klarer macht, da es auf Island offenbar auch nur neun Vornamen gibt. Aber wenn Sie demonstrieren wollen, wie wenig Sie über Island wissen, müssen Sie nur einen Mann namens Siggor Sigfusson mit »Herr Sigfusson« oder eine Frau namens Kristin Pétursdóttir mit »Frau Pétursdóttir« anreden. Wie dem auch sei, in Gesprächen wissen offenbar immer alle, von wem gerade die Rede ist, denn man hört nie die Frage »Welchen Siggor meinst du denn jetzt?«
Da Island eine einzige große Familie ist, kann man Isländer necken, indem man sie fragt, ob sie Björk persönlich kennen. Natürlich kennen sie Björk. Gibt es auf der Insel irgendjemanden, der Björk nicht persönlich kennt? Anders gefragt, gibt es irgendjemanden, der sie nicht kennt, seit sie zwei Jahre alt war? »Natürlich kenne ich Björk«, antwortet ein Finanzprofessor der Universität von Island müde auf meine Frage. »Sie |34| kann nicht singen. Ihre Mutter kenne ich noch aus meiner Kindheit. Die sind beide verrückt. Dass sie im Rest der Welt so bekannt ist, verrät mir mehr über die Welt als über Björk.«
In einer Großfamilie zu leben hat durchaus seine Vorteile. Zum Beispiel muss man sich nicht mit umständlichen Erklärungen aufhalten, denn jeder weiß ja immer schon, wovon die Rede ist. Deshalb verschwendet man in Reykjavík auch nur seine Zeit, wenn man andere nach dem Weg fragt. Genau wie alle wissen, von welchem Bjornjolfer gerade die Rede ist, wird erwartet, dass jeder weiß, wo er sich gerade befindet. Die Leute, die ich nach dem Weg zum Sitz des Premierministers frage, zucken nur mit den Schultern – einer davon ist ein Banker, dessen Büro drei Straßen entfernt lag. Und als ich mich nach der Nationalgalerie erkundige, schütteln drei Erwachsene nur mit dem Kopf, obwohl das Museum um die Ecke liegt. Als ich der freundlichen Dame am Kartenschalter erzähle, dass offenbar kein Isländer das Museum kennt, erwiderte sie: »Niemand weiß irgendetwas über Island. Letzte Woche war eine Schulklasse hier, und der Lehrer hat nach dem Namen eines isländischen Malers aus dem 19. Jahrhundert gefragt. Niemand konnte auch nur einen Maler nennen! Einer hat geantwortet: ›Halldór Laxness?‹« (Laxness gewann 1955 den Literaturnobelpreis; das blieb lange die einzige internationale Auszeichnung, die einem Isländer zuteil wurde, bis in den achtziger Jahren kurz hintereinander zwei Isländerinnen zur Miss World gewählt wurden.)
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Die Welt ist heute übersät von Städten, die sich anfühlen, als befänden sie sich auf einem Pulverfass. Die Bombe ist noch |35| nicht explodiert, aber die Lunte glimmt schon, und niemand kann sie löschen. Wer kurz vor der Pleite von Lehman Brothers durch Manhattan ging, sah leere Geschäfte, leere Straßen und leere Taxis – die Menschen waren geflohen, ehe die Bombe hochging. Auch in Reykjavík hatte man das Gefühl einer bevorstehenden Explosion, aber die Zündschnur brannte anders als anderswo.
Die Gesetze schreiben nach einer Kündigung eine dreimonatige Lohnfortzahlung vor, das heißt, viele der entlassenen Bankangestellten wurden bis Ende Januar bezahlt. Danach wurde prompt die Regierung gestürzt. Auf dem Devisenmarkt hat die Krone gegenüber dem Boom über zwei Drittel an Wert verloren. Da Island alles außer Wärme
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