Borderlands
erging, denn sie stand vor mir, als wollte sie etwas sagen.
»Ich möchte Mr Powell besuchen«, erklärte ich und deutete in Richtung Bett.
»Ah, okay«,
sagte sie und lächelte zögernd. Dann verschwand sie durch die Tür, ehe ich noch
etwas sagen konnte.
Tommy Powell
beobachtete mich; nur seine Augen bewegten sich. Sein Kopf ruhte an einem
Kissen, sein Mund stand ein wenig offen. Eine Seite seines Gesichts war starr,
als käme er gerade vom Zahnarzt, und aus seinem linken Mundwinkel rannen
Essensreste. Als ich über diesen Verlust seiner Würde nachdachte, sah ich
unwillkürlich wieder Angela Cashell vor mir, wie sie nackt auf einer Wiese lag,
den Kopf auf einem Polster aus vermodernden Blättern, während ihr Blut
erkaltete.
»Mr Powell,
ich bin Inspector Devlin. Ich bin wegen des Eindringlings in Ihrem Zimmer am
vergangenen Mittwoch hier.«
»Deblin«, sagte
er, »wer Deblin? Wer Ihr Vader?«
»Joe Devlin,
Sir.«
»Möbelmann?«
»Das ist
richtig, Sir.« Mein Vater hat immer noch einen Ruf als Möbelpolierer, obwohl er
diese Tätigkeit schon seit Jahren nicht mehr ausübt. Powells Sprechvermögen
mochte in Mitleidenschaft gezogen sein, sein Gedächtnis offensichtlich nicht.
»Was …
wollen?«, fragte er und hatte sichtlich Schwierigkeiten, auch nur einen solch
kurzen Satz herauszubringen. Es würde ein mühsames Gespräch werden, wenn ich es
nicht kurz hielt, dachte ich. Innerlich rügte ich mich zwar wegen meiner
Hartherzigkeit, entschloss mich jedoch trotzdem zur Kürze.
»Ich bin wegen
des Eindringlings Mittwochnacht hier. Erinnern Sie sich daran?«
»Nich dämlich,
Junge … krank.«
»Natürlich,
Sir. Ihr Sohn hat mir erzählt, was passiert ist. Vielleicht können Sie dem ja
noch etwas hinzufügen. Erinnern Sie sich noch an weitere Einzelheiten?«
»Könnde … Frau
sein … Junge.«
»Pardon?«
Er keuchte,
atmete schwer durch seine aristokratische Nase; er hatte wütend die Zähne
zusammengebissen und bemühte sich, sich weiter aufzusetzen. Seine Pyjamajacke
war nicht zugeknöpft, man sah eine mit grauen Haarbüscheln bedeckte Brust, die
geschrumpft und eingefallen wirkte. In den Hautlappen an seiner Kehle sah ich
seinen Puls. »Könnde … Mä’- … Mä’chen … gewe’n sein«, sagte er. »Oder ein
Junge. Klein.«
Er fiel zurück
aufs Kopfkissen, drehte den Kopf zur Wand und sah mich nicht mehr an.
Vorübergehend spannte er das Kinn an, vor Wut oder aus Groll, weil ich ihn so
schwach erlebte. Ich wollte schon eine weitere Frage stellen, lediglich um ihn
für mich einzunehmen, doch er winkte mich fort, mit einer so verhutzelten
schmalen Hand, dass sie auch einer Frau hätte gehören können.
Auf dem Weg
hinaus sah ich die Pflegerin, die Powell gefüttert hatte, nicht mehr, noch fiel
mir ein, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Ich hielt Mrs MacGowan an und
fragte sie nach ihrem Namen.
»Hat sie
Schwierigkeiten?«
»Nein, nein«,
erwiderte ich. »Ich kenne nur ihr Gesicht von irgendwoher.«
»Sie ist für
einen Monat zur Probe hier, bevor ich sie fest anstelle. Wenn sie Ärger mit dem
Gesetz hat, Inspector, sitzt sie wieder auf der Straße. Wir müssen unserem
Personal vollständig vertrauen können, da das Geld und die Wertsachen der alten
Leute offen herumliegen.«
»Nein, sie ist
nicht in Schwierigkeiten. Es ist nicht wichtig; ich kann nur ihr Gesicht nicht
einordnen. Ich habe sie vor kurzem irgendwo gesehen. So eine Art Déjà-vu«, log
ich.
»Yvonne Coyle.
Sie ist aus Strabane – Glennside, glaube ich.«
»Danke.
Vielleicht habe ich sie irgendwo in der Stadt gesehen oder so. Es wird mir
schon noch einfallen.«
Ich überlegte,
ob ich zu den Powells fahren sollte, um Miriam zu sagen, dass ich mit ihrem
Schwiegervater gesprochen hatte, obwohl ich jetzt schon wusste, dass sie und
ihr Mann sich nur wieder über mich lustig machen würden. Ich kam immerhin bis
zu ihrem Haus, einem wuchtigen viktorianischen Pfarrhaus, das Powell senior von
der anglikanischen Kirche gekauft hatte, nachdem der Pfarrer zu Beginn der
1960er Jahre von Lifford nach Raphoe gezogen war. Eichen und Bergahorn, die
Stämme von Wein- und Efeuranken überwuchert, umgaben das Gebäude. Die Mauer um
ihr knapp einen Hektar großes Grundstück war, wie mir mein Vater erzählt hatte,
vor vielleicht vierzig Jahren aus den Ziegeln des alten Gefängnisses erbaut
worden, das man 1917 abgerissen hatte. Unter dem dicken nassen Moos, das die
Mauerkrönung bedeckte und mehrere Reihen Steine herausgebrochen hatte, die
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