Borderlands
Papiertaschentuch, das Gesicht voller Gram, die Augen rot und
geschwollen. Jane Longs Augen sahen nicht viel besser aus. Sie rückte näher an
die ältere Frau heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Ich kauerte mich
vor Mrs Boyle hin, obwohl sie durch mich hindurchzusehen schien.
»Mr Boyle?«,
fragte ich.
Die Frau
schüttelte den Kopf. »Lebt in Glasgow.«
»Am besten
setzen wir uns mit ihm in Verbindung«, sagte ich zu Long und meinte damit, sie
solle ihm sowohl die traurige Nachricht überbringen als auch seinen Verbleib
klären.
»Soll ich Tee
machen?«, schlug Long vor und nahm ihr Funkgerät, während sie aus dem Zimmer
ging, vermutlich dankbar dafür, dass sie der lähmenden Trauer ein paar Minuten
lang entrinnen konnte.
»Mein Gott«,
wiederholte Kathleen Boyle immer wieder. Ihr Körper bebte.
Unwillkürlich
stellte ich die Existenz Gottes in Frage und betete zugleich inbrünstig darum,
er werde über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg sowohl dieser Frau Trost als
auch der Seele ihres Sohnes, der einen solchen Tod gewiss nicht verdient hatte,
Frieden schenken.
»Irgendeine
Idee, wer etwas gegen ihren Sohn gehabt haben könnte, Mrs Boyle? Vielleicht
jemand, mit dem er sich gestritten hatte?«
Sie schüttelte
den Kopf, das Taschentuch ans Gesicht gedrückt. »Er ist gerade erst nach Hause
gekommen«, schniefte sie. »Von der Universität. Ist in irgendeine Disco
gegangen.«
»Hatte er eine
Freundin, Mrs Boyle?«
Sie nickte,
konnte oder wollte jedoch nichts weiter sagen.
»War er
gestern Abend mit ihr zusammen?«
Diesmal ein
Kopfschütteln. »Sie lebt in Dublin. Er hat gesagt, er wollte nur einen trinken
gehen. Er war nicht verabredet. Sind Sie sicher, dass er es ist?« Die Worte
sprudelten in einem Schwall hervor.
»Wir sind
ziemlich sicher, Mrs Boyle.«
»Muss ich ihn
identifizieren oder so was? Kann ich ihn sehen?«, fragte sie, und ihre Miene
hellte sich ein wenig auf, als könnte sie, wenn sie die Leiche sähe, ihren Sohn
durch reine Willenskraft ins Leben zurückholen, und diese schreckliche Nacht
wäre genauso unwirklich wie ein Albtraum, den sie einfach vergessen könnte.
»Nein, Mrs Boyle.
Wir werden ihn identifizieren,« erwiderte ich. Ich wollte ihr nicht sagen, dass
ihr Sohn selbst für sie nicht mehr zu erkennen war. Ehe wir gingen, würde ich
etwas finden müssen, wovon wir eine DNA -Probe zum Abgleich nehmen konnten für
den Fall, dass die ärztlichen oder zahnärztlichen Unterlagen keine schlüssige
Identifizierung zuließen.
Kathleen Boyle
weinte, und Long und ich saßen daneben, tranken Tee und schwiegen. Wir konnten
sie nicht allein lassen, nicht als Polizisten, nicht als menschliche Wesen.
Gegen acht Uhr
kam ihre Schwester und überredete sie, sich ein wenig hinzulegen. Long und ich
konnten endlich zur Polizeiwache zurückfahren, nachdem wir Mrs Boyle gebeten
hatten, sich, sollte ihr noch irgendetwas einfallen, ganz gleich zu welcher
Tageszeit, an uns zu wenden. Ich saß im Auto, zündete mir eine Zigarette an und
konnte an nichts anderes denken als an meine Müdigkeit und die Kälte, die mir
bis in die Knochen gedrungen zu sein schien.
Unser Ermittlungsteam traf sich am
Dienstagmorgen um neun Uhr dreißig, um über die Fortschritte im Fall Cashell zu
sprechen, obwohl wir alle die Nacht mit dem Vorfall in der Gallows Lane
verbracht hatten. Auf dem Weg hinein rief Costello mich beiseite. »Wie
läuft’s?«, fragte er. »Zu Hause, meine ich.«
»Bestens«,
erwiderte ich, ein wenig verblüfft über diesen fürsorglichen Anflug. »Warum?«
»Wir haben
heute Morgen einen Anruf von Mark Anderson bekommen.«
»Oh.«
»Er sagt, Ihr
Hund lungert bei seinen Schafen herum, und Ihnen wäre das egal.«
»Das war doch
bestimmt nur sein perverser Sohn. Kommt der denn nicht auf die Idee, dass wir
genug um die Ohren haben, auch ohne dass er uns wegen eines dämlichen Hundes
anruft?«
»Tja, das habe
ich auch gesagt. Nicht wörtlich natürlich.«
»Sie?«
»O ja. Er ist
gleich ganz oben eingestiegen. Warum soll er zum Schmiedchen gehen, wenn er
auch mit dem Schmied reden kann, hm?« Er lachte freudlos und ging in das Büro,
in dem wir uns trafen. Ich folgte ihm und verfluchte Mark Anderson und seine
Schafe.
Bevor wir die
Fortschritte im Mordfall Angela Cashell besprachen, unterrichtete Costello uns
über die Fakten hinsichtlich des Todes von Terry Boyle. Die Rechtsmedizinerin
führte in ebendiesem Augenblick die Obduktion durch, und wir hofften, noch am
selben Tag einen
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